Königsallee
erreicht. Er fand die ruhige Nebenstraße, in der Edgar wohnte, und hielt mit quietschenden Bremsen.
Das Haus war ein Neubau am Hang, die Wohnung lag im zweiten Stock und erschien Reuter viel zu groß für einen Single. Von der Terrasse ging der Blick auf den See. Edgar hatte die Immobilie im letzten Jahr gekauft und luxuriös eingerichtet – zumindest nach Reuters Maßstab. Vom Einkommen seines Bruders konnte er nur träumen.
Die Spurensicherung war noch zugange. Wieder ein Overall und Überzieher für die Schuhe, diesmal in Weiß.
Reuter durchstreifte die Zimmer. Er war erst zweimal hier gewesen, hatte aber trotzdem den Eindruck, dass nichts gestohlen worden war. Zumindest die Wertsachen fehlten nicht: im Schlafzimmer der Wurzelholzkasten mit Edgars Sammlung teurer Uhren, im Wohnzimmer die Heimkino-und Musikanlage nach allerneuestem Stand der Technik.
Allerdings waren die beiden Ölgemälde rechts und links des Kamins zerstört worden: moderne Seelandschaften in flirrenden Farben und wildem Malstil – kreuz und quer aufgeschlitzt hing die Leinwand in Fetzen.
Der Deal besteht darin, dass die Ermittlungen ab sofort eingestellt werden.
Von wegen, dachte Reuter. Jetzt geht es erst richtig los.
Ein Techniker betupfte die Rahmen der Gemälde mit seinem Rußpinsel. Ein anderer Spurensicherer drückte Streifen von Klebefolie auf den Teppichboden.
Reuter fragte: »Wer von euch kann mir etwas über die Auffindesituation sagen?«
Ein weiterer Kollege trat ein und grüßte per Handschlag.
Es war Mangold, der Leiter des Erkennungsdienstes – eingefallene Wangen, Schatten um die Augen, ein fröhliches Hawaiihemd am Leib. »Das Opfer muss dem Täter die Tür geöffnet haben, denn es gibt keine Anzeichen eines Einbruchs. Zum Angriff kam es hier in diesem Raum. Darauf deuten Blutspritzer und Kampfspuren hin. Danach hat sich das Opfer ins Arbeitszimmer geschleppt, wo das Telefon liegt, brach jedoch zusammen, bevor es um Hilfe rufen konnte. Gemeldet wurde die Tat durch die Putzfrau. Besser gesagt, die ehemalige Putzfrau, die gegen dreizehn Uhr vorbeikam, um die Wohnungsschlüssel abzugeben.«
Er kann sich bei seinem Schutzengel bedanken.
Edgar ist selbst schuld, dachte Jan Reuter. Er bewegt sich auf dünnem Eis.
Ihm wurde klar, wie wenig er seinen Bruder kannte.
36.
Der Saal füllte sich zur Sitzung. Die Mordkommission war weiter aufgestockt worden. Scholz zählte achtzehn Beamte, Ela Bach und Kripochef Engel nicht mitgerechnet.
Der Leitende Kriminaldirektor eröffnete die Sitzung. Er wirkte wieder wie aus dem Ei gepellt – Bella Figura für die Kameras, denen er niemals aus dem Weg ging.
Dass Engel Präsenz zeigte, machte deutlich, welche politische Bedeutung die Behördenspitze dem Fall inzwischen zumaß.
Der Kripochef strich über seine Krawatte. »Kolleginnen und Kollegen, erst einmal Anerkennung für Ihren Einsatz. Aber es sind jetzt neunzehn Stunden seit der Ermordung des Türstehers und Polizeiinformanten Robert Marthau vergangen und leider wissen wir noch nicht einmal, ob die Schüsse in erster Linie ihm galten oder der Hauptzeugin, die sein Auto fuhr.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Scholz ließ den Blick schweifen. Reuter fehlte.
»Bevor ich das Wort Ihrem MK-Leiter gebe, möchte ich betonen, dass das Privatleben der besagten Zeugin – so schillernd es Ihnen auch erscheinen mag – nichts in den Medien zu suchen hat. Das Mädchen ist vermutlich schwer traumatisiert und verdient unseren besonderen Schutz. Deshalb sage ich ganz deutlich: Indiskretionen seitens ermittelnder Beamter führen unweigerlich zu Disziplinarmaßnahmen. Ich hoffe, das ist Ihnen allen klar.«
Engel schickte einen ernsten Blick in die Runde, dann verabschiedete er sich und verließ den Saal.
Thilo Becker erhob sich und fuhr mit der Rechten durch seinen widerspenstigen Blondschopf. »Nach einer ersten Vernehmung mussten wir Henrike Andermatt in der Nacht nach Hause entlassen. Sie bewohnt ein Einlieger-Apartment im Haus ihrer Eltern am Hirschweg im Stadtteil Rath. Nach einem Streit mit ihrem Vater, in dem es um ihren Lebenswandel und ihre Beziehung zum Mordopfer ging, verließ sie das Haus zu Fuß. Kollege Reuter gabelte sie auf und brachte Henrike auf ihren Wunsch zur Freundin des Mordopfers, mit der sie gut bekannt ist. Als sie heute Morgen erneut vernommen werden sollte, entwischte sie uns. Zur Stunde ist ihr Aufenthaltsort unbekannt. Wir wissen immer noch nicht, was Henrike Andermatt in den dreißig Minuten nach dem Anschlag
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