Koenigsblut - Die Akasha-Chronik
Großmutter.
„Dann bleibt dir nichts anderes übrig, als dich endlich damit abzufinden. Nach dem Studium kannst du immer noch um die Welt reisen und ein paar neue Leute kommen ja sogar hierher“, tröstete mich Liana.
Ein lautes Scheppern unterbrach unsere Unterhaltung. Wir fuhren gleichzeitig mit dem Kopf herum und sahen einen Radfahrer auf dem Gehsteig direkt auf uns zurasen. Er hatte eine Mülltonne touchiert und konnte sein Gleichgewicht nicht mehr halten. Geistesgegenwärtig zog ich Liana am Arm zur Seite, sodass sie der Lenker des Rades nur knapp verfehlte. Der Radfahrer, ein kräftiger Junge mit blondem Haar, unternahm noch einen letzten, erfolglosen Versuch durch einen Schlenker den Aufprall mit der Hausmauer zu vermeiden. Es misslang ihm. Krachend ging er zu Boden.
„Paul, bist du verrückt? Reicht es nicht aus, dass du dein eigenes Leben gefährdest, muss es auch meins sein? Du bist jetzt zwölf Jahre denselben kurzen Weg in die Schule gefahren und schaffst es tatsächlich noch am letzten Tag einen Unfall zu bauen.“ Lianas Stimme klang schrill durch den friedlichen Maimorgen und Paul lief knallrot an.
„Tschuldigung!“, murmelte er, während er sich den Arm rieb und sein Fahrrad wieder vom Boden aufhob. „Ich hatte die Mülltonne übersehen.“
„Sei froh, dass es nur eine Mülltonne war und nicht Herr Hauptmann, sonst hättest du heute bei der Matheprüfung schlechte Karten.“ Ich grinste Paul an. Ich wusste, dass er Mathe liebte, aber Hauptmann hasste und froh war, diesen Menschen mit dem heutigen Tag aus seinem Leben zu verbannen. Der Gedanke seinen ungeliebten Mathematiklehrer mit dem Fahrrad zu rammen, zauberte Paul ein unverschämtes Lächeln auf das Gesicht.
„Ja, da habe ich wohl Glück gehabt, sonst hätt ich wahrscheinlich noch ein Jahr wiederholen müssen“, sagte er immer noch grinsend.
„Los jetzt, sonst kommen wir zu spät und müssen alle noch ein Jahr dranhängen.“ Liana hatte sich wieder gesammelt und schritt zügig los.
Am Ende der Straße empfing uns das Blätterdach der alten Platanen, die dem Schulhof Schatten spendeten. Während Paul sein Fahrrad anschloss, neigte ich mich zu Liana.
„Weißt du, ob Paul in Tennenbode angenommen wurde?“, flüsterte ich ihr zu.
„Nein, er hat wieder eine Ablehnung bekommen. Sein Vater war gestern im Laden und hat es Oma erzählt, aber sprich ihn bloß nicht drauf an, er ist total enttäuscht“, gab sie ebenso leise zurück, während wir quer über den Schulhof liefen.
„Seine Hartnäckigkeit ist wirklich erstaunlich. Da steht ihm die ganze Welt offen und Paul will in Schönefelde bleiben und mit uns Verwaltungstechnische Theorie studieren. Es ist mir echt ein Rätsel, wie er sich dafür so demütigen kann“, grübelte ich.
„Ich weiß, er hat wieder Bittbriefe geschrieben und Professor Espendorm sogar einen Besuch während ihrer Sprechstunde im Rathaus abgestattet, um sie umzustimmen, diesmal sogar mit Anzug und Krawatte.“ Liana kicherte bei dieser Vorstellung.
Das Klingeln der Schulglocke unterbrach unsere Unterhaltung und wir stürmten mit den anderen wartenden Schülern zur Tür. Das alte Gebäude empfing uns mit seiner angenehmen Kühle. Ich drängelte mich neben Liana und Paul die Treppen nach oben in unseren Klassenraum und machte dabei einen weiten Bogen um ein Grüppchen Siebtklässler, die stets darauf aus waren, mich wegen meiner roten Haare aufzuziehen. Vor einer Matheprüfung konnte ich keine negativen Schwingungen gebrauchen und deswegen versuchte ich mich unsichtbar zu machen. Es gelang mir tatsächlich, im Gedränge unterzutauchen. Ich nahm Platz und versuchte mich zu konzentrieren und alle Gedanken, die nicht mit Mathematik zu tun hatten, aus meinem Kopf zu verbannen. Herr Hauptmann betrat den Raum. Er war ein schlanker, hoch geschossener Mann, der mit Vorliebe eine braune Cordhose trug, an der er seine kreideverschmierten Hände abwischte. Es dauerte nicht lang und die unvermeidliche Prüfungsaufregung stieg in mir hoch. Meine Hände zitterten, während ich den Aufgabenzettel, den Herr Hauptmann verteilt hatte, mit feuchten Fingern umdrehte. Ich war nie gern in die Schule gegangen, das Lernen fiel mir schwer. Jede gute Note hatte ich mir durch harte Arbeit erkämpft. Und heute war endlich der Tag gekommen, an dem ich meine letzte Prüfung schreiben musste. Ich überflog die erste Aufgabe, die zu meiner Erleichterung mit einer machbaren Fragestellung begann, atmete tief durch und legte los.
Vier
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