Königskind
ein
Fremder so vieles über den französischen Hof wußte, was der Königin nicht gerade zur Ehre gereichte.
»Pierre«, sagte sie, während ihr Kopf mit den gelösten Haaren auf meiner Schulter ruhte, »bitte, wenden Sie sich mir zu und
sehen Sie mich an, denn ich möchte Aug in Auge zu Ihnen sprechen. Mir ist nicht entgangen, daß Sie sehr verschlossen und vorsichtig
gegen mich sind, wenn es sich um französische Angelegenheiten handelt, und ich bin deshalb |399| wirklich nicht verletzt, vielmehr lobe ich Sie für diese Zurückhaltung, die Sie auch ruhig beibehalten sollen. Aber seit acht
Tagen sehe ich Sie traurig, wortkarg, Sie sind im stillen von Sorgen bedrückt, und ich denke, es würde Sie erleichtern, wenn
Sie mir den Grund sagen würden. Wenn Sie wollen und es nötig ist, schwöre ich Ihnen, daß kein Wort davon gegen Dritte je über
meine Lippen kommen wird, nicht in dieser Welt und«, setzte sie mit einem Lächeln hinzu, »auch nicht in der anderen. In der
anderen wäre es sogar unmöglich, weil wir dann sowieso in Ewigkeit vereint sind.«
»Liebste«, sagte ich kurz entschlossen, denn ich kannte meine Gräfin zu gut und zu lange, um sie zu verkennen, »die Schwüre
sind wirklich unnötig: ich vertraue Ihnen voll und ganz. Und Sie haben ja recht. Ich bin seit Tagen in großer Sorge, und das
hat guten Grund. Mein armer kleiner König ist sehr krank.«
»Seit wann?«
»Seit dem zweiten Oktober, dem Tag, an dem Concini von Caen nach Paris zurückgekehrt ist. Am selben Tag verspürte Ludwig heftige
Krämpfe im Leib, gefolgt von Durchfall und Erbrechen.«
»Und Sie meinen, Pierre, zwischen beiden Ereignissen besteht eine Verbindung?«
»Allerdings. Ich sehe eine. Denn selbst wenn die Krämpfe durch feuchte, warme Umschläge auf dem Bauch gelindert werden oder
aufhören, bleibt Ludwig traurig, niedergeschlagen und, wie Doktor Héroard sagt, ›abgemattet‹.«
»Matt wird man immer, wenn man an Bauchkrämpfen leidet. Dauert es noch an?«
»Seit Tagen, ja, unaufhörlich.«
»Was unternimmt man dagegen?«
»Abführtränke und Klistiere.«
»Ist das die richtige Kur? Wie denkt Ihr Herr Vater darüber?«
»Er hält sie für untauglich. Noch nie, sagt er, wurde anhaltender Durchfall mit Abführtränken und Klistieren geheilt.«
»Hat er es Doktor Héroard gesagt?«
»Ja, als ich beide in meine Wohnung eingeladen hatte, damit sie ihre Sicht des Leidens austauschen. Héroard war verunsichert,
aber nicht überzeugt, weil Abführtränke und Klistiere als |400| universelle Heimittel gelten. Vielleicht wissen Sie nicht, Liebste, daß die Ärzte sogar, als Heinrich III. vom Messer Jacques
Cléments getroffen war, als erstes ihrem königlichen Patienten ein Klistier gaben, das aber seine Schmerzen nur vervielfachte
und seinen Tod beschleunigte.«
»Ich dachte, Ihr Herr Vater war einer der Leibärzte Heinrichs III.?«
»Derzeit war er es nicht mehr. Er war unter die zahlreichen Agenten seiner Geheimdiplomatie gegangen.«
»Die ja nun«, sagte Frau von Lichtenberg, indem sie mir lächelnd über die Wange strich, »zu Ihrer Familientradition zu werden
scheint, mein Pierre … Aber, um auf Héroard zurückzukommen: Was hält er von dem Leiden, an dem Euer kleiner König krankt?«
»Er ist außer sich vor Kummer und Ängsten und widersetzt sich mit allen Kräften den Ärzten der Königinmutter, die Ludwig genausooft,
wie er purgiert wird, zur Ader lassen möchten.«
»Héroard ist also gegen Aderlaß?«
»Gott sei Dank, ja! Sonst gäbe ich für Ludwigs Leben keinen Pfifferling. Héroard hat, wie mein Vater, an der Medizinschule
zu Montpellier studiert, bei Rondelet, Saporta und Salomon von Assas, alle drei große Meister, die strikt gegen diese verdammenswerte
Neuheit, den Aderlaß, eintraten, der unter Karl IX. aus Italien eingeführt wurde und an dem dieser König auch starb, wie mein
Vater meint. Der Unglückliche litt an einer Lungenentzündung, und je mehr Blut er spie, desto öfter zapfte man ihm Blut ab.«
»Welche Logik hat das?«
»Man verfährt nach einer Metapher: Je mehr faules Wasser man einem Brunnen entzieht, desto mehr reines strömt nach. Wird also
einem Patienten soviel schlechtes Blut wie möglich abgezapft, bildet sich dementsprechend gesundes Blut.«
»Woher«, fragte Frau von Lichtenberg, »weiß man aber, ob man bei dem Aderlaß das verdorbene Blut entzieht und nicht das gesunde?«
»Bravo, meine Liebste! Genau diese Lehrmeinung vertrat man an
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