Königskinder
so wie du zu mir gehörst.«
Ich zog etwas Rotz hoch. Struppi quiekte und zappelte wie verrückt. Ich öffnete die Tasche und schaute hinein. Das Schweinchen lag auf dem Rücken, mit allen vier Beinen in der Luft strampelnd und sah mich mit schreckgeweiteten Augen an.
Ich seufzte.
»Da stehen doch überall Schilder«, meckerte der aufrechte Wildparkbesucher los. »Da steht’s doch drauf: Die Jungtiere nicht berühren!«
Ich wischte mir mit dem Ärmel die Tränen und den Schnodder aus dem Gesicht und schaute aus dem Einstieg des Hochsitzes auf die Erwachsenen hinunter. »Ich kann noch nicht lesen«, sagte ich. »Ich bin doch erst fünf!«
»Saraswati«, sagte meine Mutter mit leicht zittriger Stimme. Sie war nicht böse, nur ein bisschen überfordert. »Du weißt doch sonst auch, was richtig ist.«
Ja, das wusste ich. Aber schon damals ahnte ich, dass das, was richtig ist, nicht immer das ist, was sich auch richtig anfühlt.
Ich kletterte die Leiter hinunter und überreichte, noch einmal kurz zögernd, dem freundlichen Parkwächter die Jutetasche. Er schaute hinein, nickte dann und strich mir über den Kopf.
Meine Mutter und ich begleiteten die Männer zurück in den Park. Erstaunlicherweise war niemand richtig wütend auf mich. Selbst der aufrechte Familienvater hörte auf zu meckern als er begriff, dass ich kein professioneller Tierbefreier, hauptberuflicher Anarchist oder Kleptomane war, sondern bloß ein kleines dummes Mädchen mit einem großen Herzen. Alle fanden es irgendwie rührend, dass ich mich um das kleine, ausgestoßene Tier hatte kümmern wollen. Der Parkwächter schenkte mir am Ende sogar eine Jahresfreikarte, damit ich regelmäßig nachschauen konnte, dass es Struppi gutging.
Ich bin noch siebenmal hingefahren. Struppi ist insgesamt fünfzehn Jahre alt geworden. Er hat mich nicht einmal wiedererkannt. Undankbarer Mistkerl!
*
»Wenn du drei Murmeln hast und sechs dazubekommst, wie viele Murmeln hast du dann?«, fragte die Frau und schaute mich lächelnd und erwartungsvoll an.
»Die dreifache Menge«, sagte ich, wie aus der Pistole geschossen, »also neun.«
»Erstaunlich«, sagte die Frau und notierte sich etwas auf einem Zettel, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Dann nahm sie ein großes Blatt und drehte es so, dass ich es anschauen konnte. Es war das Bild von meinem Papa, das ich eine halbe Stunde zuvor in ihrem Auftrag gemalt hatte.
»Was ist denn das?«, fragte die Frau und zeigte auf das eine Ohr, in welches ich ein großes S gemalt hatte.
»Die Ohrmuschel«, antwortete ich geduldig. »Jedes Ohr hat doch Knorpel.« Ich runzelte die Stirn. So etwas sollte eine Erwachsene doch nun wirklich wissen, oder?
Die Frau sah meine Mutter an: »Ich mache das jetzt seit über zehn Jahren, aber noch nie hat ein Kind eine Ohrmuschel gemalt.«
Meine Mutter lächelte zaghaft. Sie war sich nicht sicher, ob es gut war, wenn Kinder Ohrmuscheln malten.
»Würdest du bitte einen Moment draußen warten?«, bat mich die Frau. Ich erhob mich artig und verließ den Raum. Im Flur standen ein paar Plastikstühle. Ich setzte mich auf einen davon und nahm mir eine Broschüre, die auf einem kleinen Tischchen daneben lag. Das erste Schuljahr – Was man darüber wissen muss, las ich.
Ich wurde ein Jahr früher als normal eingeschult. Ich war fünf und kaum größer als meine Schultüte.
Kapitel 4
1976
M it meinen Freunden war das so eine Sache: Es gab sie nicht. Die ersten sechs Jahre meines Lebens spielte ich fast immer allein, obwohl meine Eltern alles daransetzten, mich mit irgendwelchen Knirpsen zu verkuppeln. Doch andere Kinder fanden es nicht besonders reizvoll, mit mir zu spielen. Und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Es gab einfach keine Schnittmenge zwischen den meisten anderen Jungen und mir. Ich interessierte mich nicht für Fußball, Matchbox-Autos, Ringkämpfe, Superhelden oder Soldaten. Und die kleinen Kerlchen, die meine Eltern ungefragt zu uns nach Hause einluden, hatten keine Lust, mit mir Halma zu spielen, mit meinem Fischertechnik-Set einen Kran zu bauen oder kleine, lustige Theaterstücke einzuüben, die man dann den Erwachsenen vorführen konnte.
Wir lebten in einem Einfamilienhaus in Marienthal. In unserem Garten standen eine Schaukel, eine Sandkiste und ein Trampolin, die ich ganz für mich allein hatte. Marienthal ist ein sogenanntes »gehobenes Viertel«, in dem vor allem Architekten und Juristen, Geschäftsleute und leitende Bankangestellte leben. Es war schon
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