Königskinder
damals nicht die Elbchaussee, kein Villenviertel. Die Leute hier hatten aber so selbstverständlich Abitur, wie sie einen Zweitwagen besaßen. Die Welt der Mittleren Reife und des Hauptschulabschlusses war allerdings nicht weit entfernt. Es waren zu Fuß nur wenige Minuten bis Wandsbek. Wandsbek war natürlich auch kein Ghetto, kein zwielichtiges Viertel, aber viele Menschen dort mussten beim Einkaufen doch auf die Preise achten. Meine Eltern gaben ihr Bestes, meine potenziellen sozialen Kontakte innerhalb von Marienthal zu verankern.
Einmal lud meine Mutter zum Beispiel eine Frau ein, die zwei Straßen entfernt wohnte und »ganz zufällig« einen Sohn in meinem Alter hatte. Die Mutter bekam einen Kaffee angeboten und verschwand mit meiner Mama ins Wohnzimmer. Ihr Sohn, der Arno hieß, und ich blieben zurück. Arno machte im ersten Moment eigentlich einen ganz netten Eindruck.
»Wollen wir Cowboy und Indianer spielen?«, fragte er.
»Nur zu zweit?«, fragte ich. »Wie soll denn das gehen?«
»Ich bin der Cowboy, nehme dich gefangen und foltere dich«, erklärte Arno und krempelte hochmotiviert die Ärmel seines Hemdes hoch.
»Mmh«, antwortete ich skeptisch. »Ich weiß nicht.«
»Arschnase, Kackwurst, Jammerlappen«, brüllte Arno und rannte in den Garten.
In den drei Stunden, in denen Arno bei mir zu Besuch war, hüpfte er zwei Stunden lang auf meinem Trampolin herum und brüllte ständig »Höher! Höher! Höher!«, um danach eine Stunde vergeblich zu versuchen, unsere Katze einzufangen. Vermutlich um sie zu foltern. Ich saß derweilen auf der Wiese hinter einem Gebüsch, wo meine Mutter mich durchs Wohnzimmerfenster nicht sehen konnte, und las Micky-Maus-Comics.
»Beim nächsten Mal«, zischte Arno mir zu, als seine Mutter sich gerade überschwenglich von meiner verabschiedete, »bist du dran, Arschnase!« Er ist inzwischen übrigens ein erfolgreicher Unternehmensberater und hat neulich irgendeinen Preis vom Hamburger Bürgermeister überreicht bekommen. Habe ich in der Morgenpost gelesen.
Mit den Marienthaler Jungs und mir gab es also ein unlösbares Kompatibilitätsproblem. Ich verspürte allerdings auch keinerlei Neigung, stattdessen mit Mädchen zu spielen. Die heulten entschieden zu oft für meinen Geschmack und legten ein enervierend unlogisches Verhalten an den Tag. Mädchen machten aus jedem kleinen Pups ein großes Drama und widersprachen sich permanent selbst. Mädchen sind für Jungs, die plausible Gedankengänge schätzen und der Meinung sind, Worte sollten exakt das ausdrücken, was man auch meint, eine kaum zu bewältigende Spezies. Sie sind zutiefst verwirrend. Ein hübscher Anblick, aber irgendwie schief konstruiert. Damals dachte ich noch, dass sich das vielleicht auswächst, aber heute weiß ich es besser.
Die Grundschule, die ich besuchte, lag an der Schimmelmannstraße. Sie bediente sowohl das Marienthaler als auch das Wandsbeker Einzugsgebiet. Rund zwei Drittel meiner Klassenkameraden lebten in Mietwohnungen ohne Garten. Sie waren deutlich geerdeter als die Marienthaler Jungmenschen, weniger klugscheißerisch und null elitär. Doch in ihrem Desinteresse an mir waren sich alle meine Klassenkameraden einig, unabhängig von Wohnort, Aufzuchtsqualität und finanziellem Background ihrer Eltern. Ich wurde nicht geärgert, gemobbt oder gequält. Ich wurde einfach nur ignoriert. Ich war Mark, der Unsichtbare.
Meine Eltern fragten sich, ob nicht womöglich meine zu frühe Einschulung schuld an meinen sozialen Defiziten sei. Vielleicht war ich den anderen Kindern zwar intellektuell voraus, aber in meiner emotionalen Entwicklung dafür ein Spätzünder? Sie fanden es nicht gut, dass ich allein war. Das war nicht richtig und es machte sie traurig. »Vielleicht findet er ja Freunde bei den neuen Erstklässlern, die nach den Sommerferien kommen«, hoffte meine Mutter. Doch dann schockte meine Klassenlehrerin meine Eltern eines Tages mit einer irritierenden Aussage.
»Mark ist zu klug für uns«, sagte Frau Kastner. »Er kann bereits zweistellige Zahlen multiplizieren und er benutzt in der freien Rede eingeschobene Nebensätze. Wir können ihn nicht ausreichend fördern.«
Meine Eltern, die Frau Kastner am Elternsprechtag im Klassenzimmer auf zu kleinen Stühlen gegenübersaßen, wussten im ersten Moment nicht, was sie aus dieser Information machen sollten. Dann schob ihnen Frau Kastner eine Broschüre über den Tisch: »Ich glaube, hier wäre Mark besser aufgehoben.« Es war der
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