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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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Sachkunde erstaunlich gut auf?
    Meine Lehrerin war unerbittlich. Während in den Parallelklassen die meiste Zeit ein gewisses Gefühl von Heiapopeia herrschte und möglichst wenig Druck auf die lieben Kleinen ausgeübt werden sollte, war meine Lehrerin von älterer und strenger Bauart und somit der festen Überzeugung, dass man Disziplin nicht früh genug lernen kann. Nach einer dreitägigen Schonfrist bekamen wir Kinder zum ersten Mal Hausaufgaben auf. Und von da an täglich. Ich war schwer genervt.
    Ich erledigte meine Aufgaben meist am Arbeitstisch in der Traumwolke . Nach der Schule fuhr ich mit dem Rad dorthin, aß mit meiner Mutter zuerst einen Salat oder ein belegtes Mehrkornbrötchen und räumte dann so viele Perlen, Federn, Tücher, Wickelröcke und Teetüten zur Seite, wie ich brauchte, um genug Platz für meine Schulsachen zu haben.

    Eines Tages geschah etwas Seltsames. Ich saß gerade an meinem Grübeltisch und brütete über der Frage, wie viel man von neun abziehen musste, um fünf übrig zu behalten, als ein Mann die Traumwolke betrat. Er war riesig, über zwei Meter groß, und hager wie ein Bambusstock. Er hatte einen speckigen Lederhut auf, unter dem eine riesige Menge Haar hervorquoll, dichtes, lockiges, braunes Haar. Er hatte eine Nickelbrille auf, aber ich fragte mich, wie er durch sie etwas erkennen konnte, denn die Gläser waren mit so viel Schlieren und Fingerabdrücken übersät, dass ihm die Welt wie in Bodennebel getaucht erschienen sein musste. Der riesige Mann trug einen langen schwarzen Ledermantel und spitze schwarze Stiefel. Um den Hals hatte er sich ein buntes Batiktuch gewickelt. So eins, wie meine Mutter sie verkaufte.
    Es war nicht nur die Größe und das Aussehen dieses Mannes, die mich von meinen Hausaufgaben innehalten und ihn erstaunt anglotzen ließen. Du kannst dir denken, dass im Laden meiner Mutter auch sonst kein Mangel an bizarren Gestalten herrschte. Ich war es gewohnt, dass Typen bei uns herumlungerten, die aussahen, als hätten sie sich am Tag zuvor noch in Woodstock, auf einer Müllkippe oder einem fernen Planeten aufgehalten. Einige der Männer, die meine Mutter manchmal über Nacht zu Besuch hatte, waren überhaupt nur mit Mühe noch der menschlichen Spezies zuzuordnen: Sie hatten komplett mit Bärten zugewachsene Gesichter, grotesk runde Bäuche oder trugen Federn im Ohr. Dieser Mann aber war etwas wirklich Besonderes. Etwas Unerklärliches zog mich sofort in seinen Bann. Und meine Mama offenbar auch. Sie starrte ihn fassungslos an, als er begleitet vom Bimmelim unserer Türglöckchen eintrat, seinen Hut ein Stück aus der Stirn schob und bloß ein Wort sagte: »Tach.«
    Meine Mutter schien wie hypnotisiert von diesem Mann zu sein, als würde der ein Signal senden, das nur sie hören konnte. Die Stille hielt an … und an … und wurde meiner Meinung nach peinlich. Also mischte ich mich ein. Das kann ich gut, mich einmischen.
    »Was willst du denn?«, fragte ich.
    In der Traumwolke wurden alle Kunden geduzt. Wir hatten die Sorte Kundschaft, bei der bestimmte Konventionen überflüssig waren. Das war auch so ein Problem, das ich als Kind hatte: herauszufinden, wann ich mich gerade in der Du - und wann in der Sie -Welt befand.
    »Mmh«, machte der Mann und kratzte sich am Kinn, während er sich in dem kleinen Lädchen umschaute. Er schien selbst nicht genau zu wissen, was er hier eigentlich zu suchen hatte.
    Ich seufzte theatralisch, um klarzumachen, was ich von Menschen hielt, die zögerten. Zögern hieß Leben vergeuden. Dann aber besann ich mich darauf, was meine Mama mir einmal erklärt hatte: Du bist meine kleine Maharani, Saraswati, aber den Kunden musst du trotzdem manchmal König sein lassen. »Wir haben Tee und Klamotten und Bücher und Schmuck«, erklärte ich deswegen nachsichtig. »Magst du Schmuck? Meine Mama macht ganz tolle Armbänder. Auch für Männer«, pries ich unser Sortiment an.
    Der Mann schaute mir ganz tief in die Augen, so dass mir richtig schwummerig wurde. Ganz merkwürdig war das. Und dann lächelte er mich an. So ehrlich und aufrichtig und authentisch erfreut, wie Erwachsene nur ganz selten lächeln.
    »Ja. Ein Armband fände ich schön«, sagte er.
    Da endlich löste sich meine Mutter aus ihrer Schockstarre. »Möchtest du einen Tee?«, fragte sie. Das machte sie manchmal, dass sie Stammkunden Tee anbot. Dass sie dem schwarzen Riesen diese freundliche Offerte machte, wunderte mich aber ein wenig.
    »Okay«, sagte der Mann und

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