Koenigsmoerder
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Einzelheiten nach gemächlicher Durchsicht schrie, beiseitedrängen und die Bedürfnisse des Königs zuoberst stellen. Des Königs?
Ja. In seinem Herzen glaubte er, auch wenn seine Magie jetzt nur noch eine bittere Erinnerung war, dass er nach wie vor Lurs rechtmäßiger König war ‐ sein Wächter und Beschützer ‐ und das auf eine Art und Weise, die weit über Magie und Wettermachen und die Insignien der Macht hinausging. Über die Vergänglichkeit äußerlich verliehener Autorität.
Die Worte seines Vaters, die vor so langer Zeit gesprochen worden waren, hallten wie Donner in seinem Geist wider. »Barl hat eine Bestimmung für dich, mein Sohn.«
Dies war es. Die Entdeckung ihres Tagebuchs. Die Entschlüsselung seiner Geheimnisse und die Fähigkeit, sie zu nutzen, um Lur vor einer Gefahr zu retten, die er nicht definieren konnte, von der er aber wusste, dass sie ihnen drohte.
Einer Gefahr, die unmittelbar und unerklärlicherweise mit Conroyd Jarralts Schicksal verbunden war.
Ohne auf den scharfen Schmerz zwischen seinen Augen, in seinen Schultern und seinem Rücken zu achten, ohne sich um das Pulsieren in seinem Gesicht zu scheren, wo Conroyds Ring seine Haut aufgerissen hatte, konzentrierte Gar seine gesamte Energie auf die Enträtselung dieser Geheimnisse. Wann immer er den Blick von dem uralten, verblichenen Papier des Tagebuchs hob, sah er Conroyds Doppelgesicht vor sich und arbeitete nur umso grimmiger.
Klugerweise ließ Darran ihn in Ruhe.
Die Antwort erhielt er Stunden später, als am Himmel jenseits seines Bibliotheksfensters eine erste Ahnung von Licht heraufdämmerte. Es war noch nicht der Sonnenaufgang, sondern sein Vorbote.
In seiner Erschöpfung blieb ihm nichts anderes übrig, als das Tempo seiner Lektüre zu drosseln. Die späteren Einträge des Tagebuchs waren hastig und oberflächlich hingekritzelt worden, als hätte Barl genau wie er heute unter Zeitdruck gestanden. Die Worte waren fast unleserlich. Die Beschwörungen, die sie nie
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dergeschrieben hatte, waren für ihn natürlich ohne Nutzen. Aber wenn er Asher finden konnte... wenn er ihn dazu bringen konnte, ihm ein letztes Mal zu helfen...
Das arkane Erbe der Doranen war Grauen erregend. Kein Wunder, dass es Krieg gegeben hatte. Kein Wunder, dass zuerst Barl und später Durm das Tagebuch versteckt hatten. Kein Wunder, dass eine solche Magie aus dem Gedächtnis seiner Vorfahren gelöscht worden war. Der Gedanke daran, dass solche Magie während Trevoyles Spaltung hätte entfesselt werden können... Dass sie jetzt von Conroyd gegen jeden eingesetzt werden konnte, der sich ihm in den Weg zu stellen wagte...
Gar, dessen Augen vor Müdigkeit brannten, war sich des schnell herannahenden Tages nur allzu bewusst und trieb seinen erschöpften Geist weiter.
Barl hatte geschrieben:
Aber obwohl ein verschlossener Raum sicher ist, stellt er ohne einen Schlüssel auch eine Falle dar. Also habe ich einen Schlüssel gefertigt, und zu gegebener Zeit werde ich ihn benutzen, um ein Fenster in der Mauer zu öffnen, auf dass ich sehen kann, was aus der Welt dahinter geworden ist. Und wenn es sicher ist, dann werden wir nach Hause gehen.
Ich schwöre es, ich schwöre es bei meinem Leben. Eines Tages werden wir alle nach Hause gehen.
Ein Fenster in der Mauer?
Mit vor Müdigkeit vibrierenden Sinnen sackte er auf seinem Stuhl zusammen und führte sich die Konsequenzen von Barls Worten vor Augen. Bruchstücke früher gelesener Bemerkungen stiegen an die Oberfläche und fügten sich zusammen, Teile des Puzzles, das zusammenzusetzen er sich so verzweifelt bemühte.
Ich habe keiner Menschenseele von der Macht erzählt, die wir entdeckt haben, dem Schlüssel zur Unsterblichkeit ...Er kommt, er kommt, ich kann es spüren ...Er wird uns finden, ganz gleich, wie lange es dauert, jeden Winkel der Welt abzusuchen...
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Ein Fenster in der Mauer.
War das die Antwort? Hatte Durm Barls Tagebuch von Anfang bis Ende gelesen?
Und hatte er in all seinem Stolz und seiner Arroganz Barls Fenster geöffnet?
Hatte ihr sicheres, versiegeltes Königreich geöffnet und sie alle in Gefahr gebracht?
Er hörte abermals die heiseren Worte des sterbenden Durm: »Borne, vergebt mir.
Ich konnte ihn nicht aufhalten...«
Gar fuhr sich mit den Fingern übers Gesicht und mühte sich zu verstehen.
Wen aufhalten? Morg?
Nein, das konnte es nicht sein. Morg war tot, musste tot sein. Die Unsterblichkeit war ein Traum, nicht Wirklichkeit. Es gab eine andere Erklärung,
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