Köpfe für Carlita
Drive gegeben.
Neben dem Wagen blieb sie stehen und legte ihre Hände auf den oberen Holm der Tür. Bis zum Rand der Klippe waren es nur wenige Meter. Anfahren, die Tür offenlassen, sich dann aus dem Wagen werfen und das Auto weiterrollen lassen.
Das sah im Film immer so einfach aus. In der Wirklichkeit konnte sie nichts wiederholen, da mußte sie es beim ersten Mal schaffen. Das Töten eines Menschen machte ihr nichts aus. Da war sie eiskalt. Nun aber strömte die Nervosität in ihr hoch, und sie merkte auch, daß ihre Knie zitterten.
Carlita legte den Kopf zurück und holte noch einmal tief Luft, als wollte sie Energien für den letzten Schritt tanken. Dann stieg sie mit einer kantigen Bewegung ein.
An den Wagen hatte sie sich längst gewöhnen können. Sie blickte auf ihre Handschuhe. Fingerabdrücke gab es nicht, außerdem würde das Wasser ja vieles verwischen, aber sie war trotzdem vorsichtig und wollte nichts riskieren.
Starten, konzentrieren – dann anfahren!
Der Wagen rollte los. Die Frau mußte sich beherrschen, um die Geschwindigkeit nicht zu steigern. Es kam ihr alles fremd vor. In dieser Lage wirkte sie wie eine Person, die sich auf einer Bühne verloren hatte und nicht wußte, wie sie sich bewegen sollte.
Aber da mußte sie durch!
Das Auto fuhr langsam genug. Und die Tür schwang nicht zu. Immer mehr näherte sich die Frau dem Rand der Klippe. Sie schaute auch nicht auf die Weite des Meeres. Die Konzentration hielt sie umklammert wie ein Gefängnis.
Dann gab sie Gas.
Im selben Augenblick fuhr der Wagen schneller, und Carlita selbst wuchtete sich aus dem Wagen. Sie wußte, daß der Triumph bald stehenbleiben würde, aber hoffentlich nicht vor der Klippe.
Die Vorderräder erreichten den Rand, drehten ohne Haftung in der Luft, aber der Schub war noch da.
Carlita Moreno lag auf dem Boden, starrte nach vorn. Der scharfe Wind ließ ihre Augen tränen, und dann war der rote Wagen plötzlich verschwunden. Er befand sich auf dem Weg in die Tiefe. Er würde an den aus dem Wasser ragenden Klippen zerschellen, und sie würde es nicht hören, weil die lauten Geräusche der Brandung alles überdeckten.
Dafür hörte Carlita etwas anderes.
Das Lachen der Erleichterung schallte ihr um die Ohren. Jetzt hatte sie endgültig gewonnen…
***
Trotz seiner zwölf Jahre kannte Pablito das Meer, den Strand, die Felsen und auch die kleinen Buchten, die so verschwiegen waren und von der Masse kaum gefunden wurden.
Aber Pablito war derjenige, der den Bleichen aus dem Norden gern den Weg dorthin zeigte, natürlich nur gegen eine entsprechende Gebühr, die immer verschieden hoch ausfiel. Es kam darauf an, ob es Saison war oder nicht.
In den letzten Tagen waren die Geschäfte nicht mehr so gut gelaufen, und der Zwölfjährige überlegte, wie er sein Konto aufbessern konnte. Mit den Rentnern, die jetzt in Scharen eintrafen, war kein großes Geschäft zu machen, da mußte er seinen Geist schon anstrengen und sich etwas anderes einfallen lassen.
Die kleine Bucht würde ihm dabei helfen, in Ruhe über das Thema nachzudenken. Da gab es keine Eltern, die ihn störten, da konnte er den eigenen Gedanken nachhängen.
Hohe Felsen schützten die Bucht zur Landseite hin. Um sie zu erreichen, mußte man schon etwas klettern und auch gelenkig sein. Pablito kannte hier jeden Stein. Geschickt wie eine Gemse war er über die Hindernisse hinweggesprungen, hatte den Sandstrand seiner Minibucht erreicht und sich dort niedergelassen.
Er hockte dort mit hart angezogenen Beinen und hatte beide Hände um die Knie geschlungen. Sein Blick glitt hinaus aufs Meer. Er konnte sich daran nie satt sehen. Das Spiel der Wellen war immer gleich und trotzdem anders.
An diesem Tag war das Wasser nicht so aufgewühlt, denn der nächtliche Wind hatte sich gelegt. Es wehte wirklich nur ein laues Lüftchen, das der Junge genoß, aber er konnte sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen, denn es wollte ihm nicht gelingen, die Gedanken in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Was war anders?
Beim ersten Hinschauen nichts, dann aber hatte er das Gefühl, etwas würde auf ihn zukommen, etwas Schreckliches, und er kriegte sogar eine Gänsehaut, obwohl die Sonne schien. Pablito senkte den Blick. Die Sonne sollte ihn nicht mehr blenden, als er den anrollenden Wellen entgegenschaute. Sie brachten ihm die Grüße des weiten Ozeans mit, in ihnen steckten die Botschaften der Tiefe, als wären sie dazu ausersehen worden, sie den Menschen zu bringen.
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