Koerper, Seele, Mensch
Sammlungen vonBefunden, Röntgenbildern und Arztbriefen in der Tasche. Sie konfrontierten mich mit großen Hoffnungen, man habe von mir schon gehört, man habe nur darauf gewartet, daß ich endlich meine Praxis eröffne, der Hausarzt schwöre auf mich. Das war natürlich Unsinn, auf mich hatte niemand gewartet. In der unsicheren Situation des Praxisstarts mit bestenfalls halbvollem Wartezimmer war ich für derlei Schmeicheleien zwar leichter anfällig, aber nachdem ich nun auch kein Berufsanfänger mehr war, vermochte ich diesen Fällen rasch anzusehen, daß es sich um Sackgassen-Geschichten handelte, aus denen auch ein noch so genialer Chirurg spontan keinen Ausweg wissen konnte. Deswegen ebbte diese Welle auch nach einigen Monaten wieder ab. Einer der Patienten ist mir aber in deutlicher Erinnerung geblieben.
Es war mitten im Hochsommer, sehr heiß. Im Untersuchungsraum traf ich auf ein Ehepaar, beide Mitte Dreißig. Er war der Patient, seine Frau trug die Akten. Der Mann war mit einem Sweatshirt und einem Trainingsanzug bekleidet, wie man sie von Campingplätzen kennt, was mir weder der Situation noch der brütenden Hitze angemessen erschien. Er wirkte bedrückt, sah auch beim Sprechen auf den Boden. Seine Frau dagegen war offenbar der Sonnenschein in dieser Beziehung, offen, redegewandt und optimistisch.
Der Patient hatte acht Jahre zuvor in einem Gartenbaubetrieb einen Arbeitsunfall erlitten. Er war beim Zerkleinern von großen Ästen mit der Kettensäge abgerutscht, die sich tief in seinen rechten Unterschenkel gebohrt hatte. Mit dem Hubschrauber wurde er in eine nahegelegene Unfallklinik transportiert, wo es in einer mehrstündigen Operation gelang, wichtige anatomischeStrukturen so weit zu rekonstruieren, daß das Bein erhalten werden konnte. Nach sieben Wochen wurde er in eine Rehabilitationsklinik verlegt, wobei die folgenden Symptome im Vordergrund standen: Muskelschwund, Lähmung eines Unterschenkelnervs und eine geschwürsartige, eitrige Wundheilungsstörung etwa in der Mitte der insgesamt über 40 cm langen Narben am rechten Unterschenkel. Der Muskelschwund konnte durch intensive physikalische Therapie zufriedenstellend gebessert werden, die Nervenlähmung wurde durch eine Schiene so weit ausbalanciert, daß der Patient wieder erträglich gut gehen lernen konnte, an dem eitrigen Wundgeschwür aber scheiterten alle therapeutischen Bemühungen.
In den acht Jahren bis zur Konsultation in meiner Praxis war es zu insgesamt 15 stationären Aufenthalten in verschiedenen chirurgischen, internistischen und naturheilkundlichen Kliniken gekommen, bis der Patient vor drei Jahren, wie er es nannte, »aufgab«. Man habe für die Unheilbarkeit seines Geschwürs keinen Grund gefunden, die Durchblutung der Stelle sei ausreichend, die Laborwerte, auch die kompliziert und teuer zu ermittelnden, seien alle in Ordnung. Er fühle sich wie ein Abreißkalender in der letzten Dezemberwoche. Seinen Arbeitsplatz habe er natürlich verloren. Die Unfallrente, um die er sich mit der Berufsgenossenschaft noch vor dem Sozialgericht hatte streiten müssen, betrage zusammen mit dem Arbeitslosengeld weniger als die Hälfte seines früheren Einkommens. Das Versorgungsamt lasse ihn mit einem Grad der Behinderung von 40 Prozent hängen, ein Rentenantrag sei mehrfach abgelehnt worden. Auch in dieser Hinsicht habe er vor einiger Zeit aufgegeben, obwohl er das alles sehr ungerecht finde. Ihm sei inzwischen alles egal, wennnur das Geschwür endlich zuheilen würde.
Damit war offensichtlich das Stichwort für seine Frau gefallen, die bisher geschwiegen hatte. Sie bugsierte ihren Mann auf die Untersuchungsliege und krempelte ihm das rechte Hosenbein des Trainingsanzugs hoch. Sie entfernte die Schiene und zog ihm den Kompressionsstrumpf aus. Die beiden elastischen Binden, die darunter zum Vorschein kamen, wickelte sie ab, dann bat sie mich um eine Verbandsschere, um mehrere Lagen von Mullbinden aufzuschneiden. Meine Hilfe lehnte sie ab, sie wisse schon, wie man das mache, sie habe schließlich jahrelange Übung. Zum Schluß hob sie eine Lage Gelkompressen von der seitlichen Unterschenkelfläche ab, warf sie in den bereitgestellten Verbandsmülleimer, drehte sich wieder zu ihrem Mann um und wies mit beiden Händen auf die handtellergroße, gelblich belegte Wundfläche: »Hier, sehen Sie!«
Was ich sah, erklärte den üblen Geruch, der jetzt den Raum erfüllte und den so nur der Staphylococcus aureus, ein gefürchtetes Bakterium in vielen
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