Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Hontschik
Vom Netzwerk:
Frauen verglichen. Bei den pflegenden Frauen dauerte dieWundheilung signifikant länger, und – und das ist das eigentlich Besondere – ein für die Wundheilung unverzichtbares Enzym, ein Interleukin, war bei diesen Patientinnen signifikant niedriger vorhanden. Nun lassen die Zahlen 13 gegen 13 keine großen Schlüsse zu, aber so viel kann gesagt werden: Bei der alle Intimschranken durchbrechenden Pflege naher Angehöriger, mit denen wegen der Demenz keinerlei Kommunikation, kein Austausch mehr möglich ist, können alte, dunkle Rechnungen, die ›Leichen im Keller‹, nicht mehr ausgeglichen werden. Gefühle werden bei den Pflegenden wach, wachsen an, finden aber keinen Ausweg. Wunden können nicht mehr heilen, so oder so. Spannend daran ist, daß sich die tiefe Problematik des Subsystems Familie bis in die Subsystemebene der Zelle hinein auswirkt und das Vorhandensein oder zumindest das Funktionieren von lebenswichtigen Enzymen zu verhindern vermag. Es existieren also, wie gesagt, nicht nur verschiedene Systemebenen in der nicht-trivialen Maschine Mensch, sondern es gibt auch Verbindungen zwischen diesen Systemen, Auf- und Abwärtsbewegungen von Symptomen, die die Suche nach einer Heilung kompliziert und auch unmöglich machen können.
    Vierte Idee:
Natürlich verbirgt sich nicht hinter jeder offenen Wunde ein schreiender Mund, aus dem heraus sich die geknechteten Emotionen ihren Weg suchen. Auch will nicht jeder Patient mit einer chronischen Wunde alte Schuld abtragen oder Druck auf seine Angehörigen oder seinen Arzt ausüben, um nur diese Beispiele zu nennen. Die Beschäftigung mit dem Problem der Wundheilungsstörung ist vor allem ein Hilfsmittel, um Kreativität und Phantasiefür die eigentliche ärztliche Tätigkeit freizusetzen, die darin besteht, eine gemeinsame Wirklichkeit zwischen Arzt und Patient herzustellen, um in diesem Passungsvorgang einen therapeutischen Weg, also eine Lokalisierung der Passungsstörung und eine Festlegung des ärztlichen Auftrags zu finden.
    Der Passungsvorgang zwischen Arzt und Patient ist einzigartig und individuell, so daß man die vorhandenen Konzepte nur als anregende Konstruktionen betrachten sollte, ebenso wie auch Laborwerte oder das Ergebnis eines Abstrichs eine weiter- oder zielführende Konstruktion sein können. Über all das, von Laborwerten bis zu Konzepten des Körperselbst und Wunden als Zeichen, muß ein Arzt, der Patienten mit Wundheilungsstörungen behandeln will, Bescheid wissen. Keinesfalls aber sollte eines dieser Konzepte, die aus der Beobachtung oder Behandlung vieler Geschichten von Wundheilungsstörungen entstanden sind, einem konkreten Einzelfall ›übergestülpt‹ und als die einzig mögliche Lösung gewertet werden.
    Das besagte Ehepaar war nach dem selbsterledigten Verbinden der Wunde und dem Entgegennehmen der entsprechenden Rezepte aus meiner Praxis verschwunden, ehe ich zu realisieren begann, daß sich hier in der Tat etwas sehr Seltsames abgespielt hatte. Innerlich kochte ich vor Wut, und die Zuschauerrolle, die mir in dieser Szene zugewiesen worden war, konnte ich nicht verstehen und schon gar nicht akzeptieren. Die beiden kamen von da an jede Woche. Da ich keine Lust auf weitere Inszenierungen dieser Art hatte, sorgte ich dafür, daß die Patientenkarte ihren Platz auf Dauer in der Verbandssprechstunde der Krankenschwestern fand. Diese erfahrenen Schwesternarbeiten weitgehend selbständig, rufen aber sogleich den Arzt, wenn eine Verschlechterung eintritt oder aus anderen Gründen eine Änderung des Therapieplans notwendig wird.
    In unserem Fall war es nach etwas mehr als vier Wochen soweit: Die Krankenschwester rief mir zu, daß es etwas zu sehen gebe. Sie hatte sich in dieser Zeit wahrscheinlich intensiver um die Wunde gekümmert als irgend jemand zuvor. Ich fand die beiden – Patient und Ehefrau – in der gleichen konzentrierten Haltung, die ich bei ihrem ersten Besuch in meiner Sprechstunde schon einmal erlebt hatte, über die Wunde gebeugt. Von einer fröhlichen Stimmung war an diesem Tag aber nichts mehr zu bemerken: Eine ernste, besorgte Stimme hatte die Frau, als sie mir zeigte, daß das Geschwür der offenen Wunde nur noch halb so groß war wie vor vier Wochen. Ihr Ernst war gemessen am sichtbaren Erfolg der bisherigen Behandlung wiederum so inadäquat, daß ich ihn einfach kommentieren mußte. Ich bemerkte, daß sie sich wohl bald ein anderes gemeinsames Spielzeug suchen müßten, wenn sie es weiter so interessant im Leben haben

Weitere Kostenlose Bücher