Koerper, Seele, Mensch
ablaufen, die Enzyme und Mediatoren könnten ungestört arbeiten und zielgerichtet ineinandergreifen. Wäre die Wundheilung ein derart trivialer Vorgang, dann wäre dieser Vorgang bei meinem Patienten nicht gestört. Die Subsysteme der verschiedenen Ebenen beeinflussen sich wechselseitig. Es sind ›Auf- und Abwärtsbewegungen‹ feststellbar, auch wenn sich diese auf den ersten Blick nicht erkennen lassen.
Zweite Idee:
Passung ist etwas äußerst Vielschichtiges, wir sprechen deshalb von verschiedenen Passungsebenen und benutzen dabei Begriffe der Systemtheorie. Es gibt Passungen zwischen Molekülen, zwischen Zellen, zwischen Organen, zwischen Organen und ihrem Organismus, zwischen verschiedenen Organismen, zwischen Organismus und Umwelt usw. Wo Passung existiert, können auch Passungsstörungen angesiedelt sein. Wenn Gesundheit die gelungene Passung auf all diesen Ebenen darstellt, dann wäre es die Aufgabe des Arztes, gemeinsam mit dem Patienten die Passungsstörung zu lokalisieren. Dabei müssen beide Seiten für die Wahrnehmung der Zeichen offen sein, die von den verschiedenen Ebenen des Systems ausgehen.An dieser Stelle behelfe ich mich manchmal mit dem Begriff des Adäquaten, wobei mir bewußt ist, daß ich damit in eine gefährliche Nähe zum sogenannten gesunden Menschenverstand gerate. Ich versuche mir vorzustellen, was adäquat ist, bemühe mich dabei aber, nicht zu vergessen, daß bei solchen Überlegungen ein Irrtum wahrscheinlicher ist als ein Treffer. Bei einer Wunde rechne ich zum Beispiel mit einem Patienten, der Schmerzen hat und vielleicht weint. Ich rechne mit Fragen wie: »Wie konnte mir das passieren?«, »Wann werden die Fäden gezogen?«, »Wann kann ich wieder duschen?«, »Kann ich damit Auto fahren?« oder – vor einer Operation – »Wird das weh tun?«. Diese Fragen scheinen mir adäquat, da würde ich zunächst nicht an eine Passungsstörung denken. Hingegen rechne ich nicht mit dem Schauspiel einer Beziehungsorgie an der offenen Wunde, ich rechne nicht mit dem Verbandswechsel als Zeremonie, als komplexem Ritual, ich rechne nicht mit der Krankheit als einer Quelle gemeinsamen Glücks. Das halte ich für inadäquat, da vermute ich eine Passungsstörung. Allerdings weiß ich nun noch immer nicht, wo die Passungsstörung liegt.
Dritte Idee:
Ist man angesichts einer Wundheilungsstörung auf der Suche nach der Passungsstörung, kann man auf eine Reihe von ausgearbeiteten Konzepten zurückgreifen, die verschiedene Ärzte während ihrer Beschäftigung unter anderem mit selbstbeschädigenden Patienten und Patienten mit Osteomyelitis (Vereiterung des Knochens) entwickelt haben. Bei Reinhard Plassmann (1999) findet man zum Beispiel die Idee von den Zonen im Körper: tote Zonen, fusionäre Zonen, Spaltungszonen und Entwertungszonenim ›Körperselbst‹. Durch die Aufteilung des eigenen Körpers in Zonen, also durch einen Vorgang der Fragmentierung und Dekonstruktion einer eigenen körperlichen Integrität, kann ein schmerzender oder infizierter Körperteil abgespalten und entwertet werden. Der behandelnde Arzt kann also darauf achten, ob der Patient seinen Körper in bestimmte Zonen einteilt, etwa in gut oder böse, schmerzhaft oder beschwerdefrei, tot oder lebendig. Klaus Klemm (1999) schlägt dagegen vor, den bei einer gestörten Wundheilung entstehenden Eiter als Währung, mit der eine alte, in der Tiefe vor sich hin stinkende Schuld beglichen werden kann, oder als Machtmittel zu betrachten, wenn er in Beziehungen wie zum Beispiel auch derjenigen zum Arzt eingesetzt wird; es könnte sich also in manchen Fällen für den behandelnden Arzt lohnen zu prüfen, ob die Wunde für eine andere Kommunikation gebraucht wird als für die Suche nach einem Weg zur Heilung. Und Mechtilde Kütemeyer (2003) entwickelt das Bild von der Wunde als Mund, der eine frühere oder vielleicht auch akute (seelische) Verletzung so lange herausschreit, bis sie durch eine adäquate Traumaverarbeitung nicht mehr gebraucht wird und zu heilen vermag; man kann also darauf achten, ob die Wunde spuckt oder geifert, blau, rot oder grün anläuft oder leichenblaß wird, sich unerwartet öffnet oder eher schließt.
Eine ganz eigenartige Bestätigung solcher Konzepte findet sich in einer Arbeit, die 1995 in der angesehenen englischen Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht wurde: Bei 13 Frauen, die nahe Angehörige mit fortgeschrittenem Alzheimer pflegten, wurde die Wundheilung mit derjenigen einer Kontrollgruppe von 13 anderen
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