Koerper, Seele, Mensch
Ein Wirkstoff wird gegeben, die entsprechende Wirkung tritt ein. Oder es wird kein Wirkstoff gegeben, und es kann auch keine Wirkung festgestellt werden. Erklärungsideen für die beiden anderen Möglichkeiten gibt es in diesem Modell hingegen nicht, sie sind der Schulmedizin fremd und suspekt, obwohl sie von ihr jeden Tag tausendfach eingesetzt werden.
Im Falle der unerwarteten Wirkung von Atropin (Laborgehilfe Tom) und Adrenalin (Versuchstier Hund) muß etwas geschehen sein, was es bei zweigliedrigen Ursache-Wirkungs-Maschinen nicht gibt, bei denen auf eine bestimmte Ursache immer die gleiche Wirkung folgt. Etwas Drittes muß dem Wirkstoff eine Bedeutung erteilt haben; damit kommen die Zeichen ins Spiel, mit denen Tom bzw. der Hund den Wirkstoff verbunden haben, die Zeichen also, mit denen der Wirkstoff in den Organismus transportiert worden ist und die offenbar so mächtig sind, daß sie die Auswirkungen des Stoffs in ihr Gegenteil verkehren können. Ein solcher Vorgang läßt sich nur dadurch erklären, daß ein Lebewesen allem, was es in seiner Umgebung wahrnimmt, und besonders jedem Zeichen, das es aus der Konstruktion seiner Lebenswelt heraus aktiv oder passiv aufnimmt, eine Bedeutung erteilt. Die Bedeutungserteilung ist der entscheidende Vorgang, der über die Entfaltung einer Wirkung entscheidet. Ein Lebewesen funktioniert demnach nicht wie eine zweigliedrige, technische Maschine, sondern wie eine dreigliedrige, eine lebendige ›Maschine‹. Das dritte Glied zwischen Ursache und Wirkung entsteht durch die Interpretation der Zeichen, durchdie Bedeutungserteilung. In Toms Fall funktioniert das Atropin (eigentlich darmlähmend) also als ein bloßes Vehikel für die Bedeutung eines Zeichens als Wirkprinzip (Erbrechen).
Vor diesem Hintergrund kann man sich den Untersuchungsergebnissen mit mehr Verständnis nähern: Jede therapeutische Intervention und die dadurch ausgelöste Wirkung enthalten sowohl einen physiko-chemischen Anteil als auch einen Anteil, der sich durch Bedeutungserteilung ergibt. Die interessante Frage ist im Einzelfall also nicht, ob solche Anteile existieren – daran besteht kein Zweifel –, sondern statt dessen, wie groß der jeweilige Anteil ist. Eine starke und anhaltende therapeutische Wirkung kann nur entstehen, wenn die physiko-chemische Wirkung und die Wirkung durch Bedeutungserteilung in die gleiche Richtung zielen. Zielen sie jedoch in gegenteilige Richtungen, entstehen gar keine, unvorhergesehene oder absurde Wirkungen. Natürlich hat der Vorgang der Bedeutungserteilung selber auch physikalische und biochemische Grundlagen, die derzeit durch Erkenntnisse in der modernen Neurobiologie erstmals transparent zu werden beginnen.
Wenn man das alles verstanden hat, löst sich der Begriff des Placebos in nichts auf. Benutzt man ihn dennoch, ist man ein weiteres Mal in die Dualismusfalle der Schulmedizin geraten, die den fundamentalen Vorgang der Bedeutungserteilung ignoriert und sich aus den daraus resultierenden Erkenntnisproblemen zu retten versucht, indem sie – allerdings ohne Erfolg – auf der strengen Trennung von Körper und Psyche beharrt. Natürlich ist die fundierte Kenntnis der physiko-chemischen Wirkungen (der trivialen Maschine) Voraussetzung jederärztlichen Tätigkeit. Ärztliches Können, die Heilkunst, basiert aber außerdem und genauso grundsätzlich auf einem ebenso fundierten Wissen über die Macht und die Mechanismen der Bedeutungserteilung (nicht-triviale Maschine), und wie sie gezielt und dosiert therapeutisch eingesetzt werden können. Ärzte setzen diese nicht-trivialen Wirkmechanismen täglich tausendfach ein, absichtlich oder unabsichtlich, aber immer mit der Idee, dem Patienten zu nützen. Oder anders gesagt: Wenn Ärzte in Krankenhäusern und Arztpraxen sich mit dem Beginn ihrer Berufstätigkeit weiter stur an das dualistische Konzept der Schulmedizin halten würden, das die universitäre Medizin und die Mediziner-Ausbildung beherrscht, dann wäre der ärztliche Alltag ein noch größeres Trauerspiel.
Noch einmal zusammengefaßt: Bei allen Lebewesen, daher auch beim Lebewesen Mensch, funktioniert die Kommunikation mit Hilfe von Zeichen. Semiotisch interpretiert, ist das Atropin, das eigentlich darmlähmend wirkt, bei dem Laborgehilfen Tom bloßes Vehikel für die Bedeutung eines Zeichens als Wirkprinzip (Erbrechen). Diese Bedeutung wurde dem Vehikel durch eine innere Instanz aufgeprägt, die wir nicht ohne weiteres erkennen oder durchschauen können. Statt
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