Koerper, Seele, Mensch
schlecht heilenden Wunden, verursachen konnte. Mich erfaßte immer mehr das Gefühl, daß diese Wunde nie heilen würde. Die Ehefrau zeigte sich davon aber ganz unbeeindruckt. Ihre Bewegungen und ihr Ausdruck beim Entfernen der letzten Verbandsschicht erinnerten mich an das Gebaren von Kellnern in einem Drei-Sterne-Restaurant, die die glänzenden Messinghalbkugeln von den Tellern des Hauptgangs abheben und nun mit den Ahhs und Ohhs der Gäste rechnen.
In dem Moment, in dem die Ehefrau den Verband entfernt hatte, veränderte sich die Atmosphäre im Untersuchungsraum schlagartig. Es war, als ob in einem Theaterplötzlich die Bühne, die Beleuchtung und das Textbuch ausgetauscht worden wären. Bis jetzt hatte der Patient mir nur depressive Geschichten erzählt, die Ehefrau hatte die Regie geführt, und ich war im Geiste schon damit beschäftigt, wie ich mich am Ende wohl in die lange Reihe der medizinischen Versager eingereiht haben würde, ohne das Gesicht verloren zu haben. Kaum lag die Wunde offen da, war alles anders: Wie ein munteres Feuerwerk begann eine Diskussion der Eheleute, beide hatten ihre Köpfe über die Wunde gebeugt, es wurde nun lebhaft über Größe, Grenzzonen und Farbnuancen der einzelnen Wundabschnitte diskutiert, jede einzelne Granulationsinsel wurde mit ihrem gestrigen und vorgestrigen Zustand verglichen und einzeln gewürdigt. Die Frau strich mit einer Kompresse fast zärtlich über eine Granulationszone, und die entstehende Blutung löste bei beiden wirkliche Freude aus. Selten darf man live an so viel Glück und Verbundenheit in einer Beziehung teilnehmen. Ich wurde etwas ärgerlich, da ich das Gefühl hatte, überflüssig zu sein; das war jedoch ein Irrtum, denn als Zuschauer wurde ich hier wirklich gebraucht. Beide wandten sich nun gemeinsam an mich, zeigten mir die Details der Wunde, beschrieben die Entwicklung in der letzten Zeit, baten um Verbandsmaterial und die entsprechenden Rezepte.
Eigentlich sind bei diesem Patienten alle organischen Voraussetzungen zur vollständigen Wundheilung gegeben. Er ist jung, hat weder Diabetes noch eine Gefäßerkrankung, die erfaßbaren Blutwerte sind in Ordnung, keine Zelle zu wenig, keine zuviel. Dennoch ist der wundervolle Prozeß der gelungenen Wundheilung schwer gestört. Die Störung betrifft aber in diesem Fall nicht den gesamten Prozeß, sondern eine ganz bestimmte Stelle, ander es eine Blockade gibt. Sie behindert den Schritt der Bildung von Funktions- oder Narbengewebe aus dem Granulations- und Fasergewebe heraus. Auf den Funktionskreis bezogen ist das der Schritt vom Merken zum Wirken.
In der Integrierten Medizin achtet man auf die Passung und auf die Zeichen. Wenn es zu einer Krankheit oder zu einer Heilungsstörung kommt, sucht man nach der Passungsstörung und bemüht sich, die Bedeutung der Zeichen zu verstehen, soweit man sie überhaupt wahrnehmen kann. Will man eine Änderung im Krankheitsgeschehen erreichen, versucht man eine gemeinsame Wirklichkeit mit dem Patienten zu gewinnen, um zusammen die Passungsstörung und den aus ihr resultierenden ärztlichen Auftrag finden zu können. Im geschilderten Fall ist zum Beispiel eine beeindruckende Passung zwischen Patient und Ehefrau zu spüren, was ja an sich eine gute Voraussetzung für ein heilungsförderndes Ambiente sein könnte. Betrachtet man aber die verschiedenen Systemebenen, auf denen sich diese Krankengeschichte bewegt, sieht man, daß Passung allein nicht per se etwas Gutes ist. Die Zeichen, die von dem System ›Ehepaar‹ zu mir kommen, sind auffallend ›unmedizinisch‹ und wecken in mir ganz ›unärztliche‹ Gefühle: Woher kommt meine eigentlich alberne Phantasie der Szene in einem Luxusrestaurant? Wieso beschäftigt mich die ›glückliche‹ Symbiose der Eheleute genauso wie die ›unglückliche‹ Wundheilung? Wieso werde ich ärgerlich, wenn jemand meinen chirurgischen Rat haben will? Wieso kann ich in dem Subsystem ›Zelle – Wunde – Blutgerinnung‹ wie alle anderen Ärzte vor mir auch keine Störung entdecken, wo doch alles so gestört vor mir ausgebreitet wird? Mit welchenMitteln kann man in einem solchen Fall eine Passungsstörung lokalisieren?
Erste Idee:
Natürlich ist nicht jeder Fall einer Wundheilungsstörung so eindrücklich wie der oben geschilderte. Aber jede einzelne Geschichte einer Wundheilungsstörung ist ein immer wieder neuer Beweis dafür, daß der Mensch keine triviale Maschine ist. Die trivialen Vorgänge, die Regelkreise könnten ungestört
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