Koerper, Seele, Mensch
wollten. Der Satz war wie ein Scherz formuliert und sollte eigentlich ein Gespräch über die Rolle dieser Wunde im Alltag der Eheleute provozieren, löste statt dessen aber eine kommunikative Katastrophe aus: Die Art, wie die Ehefrau – nicht die Schwester – eilig den neuen Verband anlegte, hatte etwas vom Zusammenraffen der Kleider, wenn man in einer peinlichen Situation ertappt worden ist. Bei dieser Flucht vergaßen sie sogar die Rezepte.
Wieder einige Wochen später fragte mich die Schwester nach besagtem Patienten, und erst da wurde mir klar, daß die beiden seitdem nicht mehr in meiner Praxis gewesenwaren und auch nicht wieder kommen würden: Ich hatte sie vertrieben.
Die intensive und geduldige Arbeit der chirurgischen Krankenschwester hatte eine Besserung des chronischen Wundgeschwürs bewirkt, allerdings keine Heilung. Man kann durchaus sagen, daß ich von diesem Patienten nicht viel verstanden hatte, allerdings mit Gefühlen in mir selbst konfrontiert war, die mir gleich als ungewöhnlich, als unpassend auffielen. Mit einer etwas aus dem Rahmen fallenden, aber doch einfachen und ehrlichen Bemerkung hatte ich ungewollt einen völligen Abbruch der Arzt-Patient-Beziehung bewirkt. Hätte ich es mit einer trivialen Maschine zu tun gehabt, wäre das nicht passiert, denn in einem Ursache-Wirkungs-System ist es nicht von Bedeutung, die Konstruktion von Lebenswirklichkeiten zu verstehen (oder mißzuverstehen).
Das dreigliedrige System der nicht-trivialen Maschine erlaubt es dagegen, zumindest im Ansatz zu erkennen, warum diese Heilung nicht vonstatten gehen konnte: Ich hatte nämlich die individuelle Wirklichkeit des Ehepaars, des kranken Mannes und seiner rührend tätigen Ehefrau, nicht begriffen. Wohl war eine Reihe von Zeichen aus deren Black Box bei mir angekommen, aber deren Bedeutungserteilung, die den entscheidenden Unterschied zu jedem zweigliedrigen System ausmacht, blieb mir fremd und unverständlich. Als dualistisch gut ausgebildeter Arzt konnte ich das System ›Wundheilung‹ analysieren und feststellen, wo der Funktionskreis zum Stillstand gekommen war; aber ich konnte nicht verstehen, an welcher Stelle das System ›Ehepaar‹ in seinem Funktionskreis steckengeblieben war, und schon gar nicht war mir klar, was innerhalb dieses Systems das Nicht-Heilen derWunde bedeutete. Ebensowenig konnte ich die Zeichen des einen Subsystems (Wundheilungsstörung) mit den Zeichen des anderen Subsystems (Ehepaar) verbinden und eine gemeinsame Wirklichkeit mit dem Patienten (und seiner Frau) erarbeiten, um Passungsstörungen zu benennen. Deswegen also: ein Mißerfolg.
In dieser Konstellation ist mir das Paar in meiner Praxis nie wieder begegnet. Ungefähr vier oder fünf Jahre später aber kam der Mann wieder in die Sprechstunde, und zwar allein, diesmal nicht wegen des Geschwürs an seinem Unterschenkel, sondern wegen einer harmloseren anderen Verletzung. Die Wunde kam zunächst gar nicht zur Sprache: Sie war längst verheilt. Erst auf meine Bitte hin zeigte er mir die alte Narbe, die zwar noch etwas rot war und gelegentlich auch brannte oder juckte, aber sie war geschlossen. Ich freute mich sehr, der Patient hingegen war völlig gleichgültig. Wieder fand ich die Reaktion inadäquat. (Das Inadäquate ist wie ein roter Faden in dieser Fallgeschichte.) Ich fragte ihn nach dem weiteren Verlauf in den vergangenen Jahren und überließ es mit Absicht seiner Entscheidung, auf welcher ›Systemebene‹ er nun antworten würde. Nach einer drückenden Pause erzählte er, daß er seit drei Jahren geschieden sei. Als er damals seinen schweren Unfall erlitten hatte, stand offenbar gerade ein langwieriges Adoptionsverfahren, auf das sich das kinderlose Ehepaar eingelassen hatte, kurz vor dem erfolgreichen Abschluß. Wegen seiner Verletzung und der langwierigen Erkrankung hätten sie es erst verschieben, später dann ganz aufgeben müssen. Es habe nun für beide nur noch ein Thema gegeben: sein verletztes Bein, das nicht heilen wollte. Beim überstürzten Aufbruch in meiner Praxis habe er sich wie ein kleines Kind gefühlt, ertappt,getadelt, unverstanden. Von da an hätten seine Frau und er sich mehr und mehr gestritten, aber immer über »seltsame Sachen«, wie er sich ausdrückte, zum Beispiel über Kindererziehung, obwohl sie doch gar kein Kind hatten. Irgendwann sei gar nichts mehr gegangen, sie hätten sich getrennt. Daß währenddessen seine chronische Wunde geheilt war, erwähnte der Patient nicht.
Jetzt deutete
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