Koerper, Seele, Mensch
sich an, was ich alles nicht verstanden hatte, nicht verstehen konnte. Die Lebenskonstruktion dieses Ehepaars war von einem unerfüllten Kinderwunsch geprägt. Der Unfall des Mannes hatte beide getroffen. Die Phantasien der Zeugungsunfähigkeit wurden bei dem Patienten durch die reale Schwere der Verletzung, die tatsächliche Behinderung, Lähmung und die chronische Wunde im Sinne einer generellen Unfähigkeit, einer umfassenderen Impotenz, verstärkt. Er hatte aufgegeben: vom Kinderwunsch bis zum Versorgungsamt, von der Berufsgenossenschaft bis zur nicht heilenden Wunde – ein einziges Versagen. Die Ehefrau wiederum fand in seiner Wunde eine Aufgabe, eine Erfüllung, sie konnte seinen Wunsch nach Versorgung ohne große Überwindung erfüllen. Die Beziehung war ruhig und stabil, solange sich in der Wunde nichts bewegte. In dieser Konstellation wirkte meine dahingeworfene Bemerkung wie ein Brandsatz. Obwohl sie auf die Situation im Grunde zutraf, also ›paßte‹, führte sie nicht nur zu einer Passungsstörung zwischen mir und meinem Patienten, sondern (zer)störte außerdem die Passung zwischen den Eheleuten.
Die Integrierte Medizin stellt die individuelle Konstruktion der Lebenswirklichkeit in den Mittelpunkt. An diesem Fall kann man erkennen, daß sie auch das Scheitern der ärztlichen Arbeit verständlich zu machen vermag.Mit dem Denkmodell der trivialen Maschine hätte ich auch im nachhinein nichts verstanden und aus dem Scheitern nichts gelernt.
Dennoch bleiben Fragen offen. Wenn zum Beispiel das Subsystem Ehe diese chronische Wunde ›braucht‹, wieso kommt es im Subsystem Wundheilung und dessen Funktionskreis an einer ganz bestimmten Stelle und nicht an einer beliebigen anderen zu einer Störung, zu einem Abbruch? Was ist eigentlich Heilung? Ist es besser, ein vitaler Ehemann in einem stabilen Subsystem Ehe und einem gestörten Subsystem Wundheilung zu sein oder lieber nach einer Scheidung – dem endgültigen Versagen des Subsystems Ehe – depressiv das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen, wenn auch nun mit verheilter Wunde, also dem wieder geschlossenen Funktionskreis des Subsystems Wundheilung? Was hätte ich tun können, um die Arzt-Patient-Beziehung so zu konstruieren, daß eine Passung über die eigentliche Störung möglich geworden wäre? Habe ich mit meinem flapsigen Satz zur Heilung des Patienten beigetragen oder ihm geschadet?
Daß ich schon bei der ersten Konsultation das Gefühl hatte, die Wunde würde nie heilen, war nicht als Vorhersage gedacht, sondern zeigt, wie ärgerlich
man als Arzt bei der Behandlung solcher Patienten werden kann. Dieser Ärger ist aber lediglich ein Zeichen dafür, daß ich nichts verstanden hatte. Auch das
ist eine Passungsstörung, die eine gemeinsame Wirklichkeit in der Arzt-Patient-Beziehung verhindern kann; eine solche Störung zu entdecken und zu begreifen
ist eine Fähigkeit, die ein Arzt sich genauso aneignen muß wie das Wissen über Zellaufbau, Enzymkaskaden und Operationstechniken.
Schon bei den Überlegungen zum Placebo tauchte die Frage auf, ob nicht vielleicht der Arzt selbst wie ein Medikament wirken könne, sowohl als Placebo wie auch als Nocebo. Mein Patient mit der Wundheilungsstörung und wahrscheinlich noch mehr seine Ehefrau hatten mich eher als Nocebo denn als Placebo erlebt. Der Psychoanalytiker Michael Balint prägte in den fünfziger Jahren für diese potentielle ärztliche Rolle den Begriff der »Droge Arzt« und forderte, daß über diese Droge genauso geforscht werden müsse wie über jedes andere Mittel auch. An einem Fall von Tumorschmerzen stellen zwei Kollegen, Gerlind Leininger und Reinhard Plassmann, im nächsten Kapitel dar, was die Integrierte Medizin zu einer solchen Forschung beitragen kann.
8. Schmerzen:
Droge Morphium oder Droge Arzt
Von Gerlind Leininger
mit Reinhard Plassmann
Jeder weiß um die Wirksamkeit der Droge Arzt, dennoch führt sie ein Schattendasein im traditionellen Forschungsbetrieb der Medizin. Michael Balint bedauerte bereits vor 50 Jahren, »daß es für dieses hochwichtige Medikament noch keine Pharmakologie gibt. In keinem medizinischen Lehrbuch steht etwas über die Dosierung, in welcher der Arzt sich selbst verschreiben soll, nichts über Form und Häufigkeit, nichts über heilende oder erhaltende Dosen. Beispielsweise konnte nachgewiesen werden, daß die Wirksamkeit eines Präparats steigt, wenn es dem Patienten von einem Arzt statt von einer Krankenschwester verabreicht wird.« (Balint 1957)
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