Kohärenz 01 - Black*Out
versucht haben, die Codierung des Sehnervs zu entschlüsseln -«
Kyle hob die Hand. »Stopp. Sorry. Ich hab’s mir anders überlegt. Nach allem, was passiert ist, brauche ich erst mal ’ne Auszeit, okay?«
»Okay«, sagte Christopher. Es schien ihm gar nicht so unrecht zu sein.
So fuhren sie weiter, durch eine derart kahle, leblose Landschaft, dass es Serenity zwischendurch vorkam, als habe sich das Ende der Welt längst ereignet und als seien sie die letzten Überlebenden. Und auch nur deshalb, weil sie von dem, was passiert war, nichts bemerkt hatten.
»Was ist eigentlich mit deinen Eltern?«, fragte sie Christopher nach einer Weile. »Wissen die überhaupt, wo du bist?«
Christopher sah sie an, mit einem Blick, der Serenity bis auf den Grund ihrer Seele erschreckte. »Meine Eltern?«, sagte er mit hohler Stimme. »Meine Eltern gehören zu denen!«
Evolution
25 | Irgendwann verlor Christopher das Gefühl für Zeit und Raum. Die Fahrt schien endlos zu dauern, die Sonne stand am Himmel wie festgenagelt, und er hätte nicht mehr sagen können, ob Stunden vergangen waren oder Tage oder Monate, seit sie aufgebrochen waren.
Wie trostlos die Landschaft draußen war! Eine nicht enden wollende Ebene in Grau und Braun, mit erbärmlichen, trockenen Pflanzen hier und da, die mehr tot aussahen als lebendig. Und endlos, wie gesagt. Noch nie hatte er eine solche Weite erlebt, eine derart lange Strecke durch eine Landschaft zurückgelegt, ohne dass sich ringsherum irgendetwas Wesentliches änderte. Wenn er an Deutschland zurückdachte, an Frankfurt: Wie eng und überschaubar da alles war! Und England genauso; mit den winzigen, vielfach gewundenen Straßen mit den überwachsenen Seitenrändern, die sich lieblich in eine Landschaft schmiegten, die verglichen mit dieser Wüste die reinste Puppenstube war.
Ab und zu nickte er ein, schwebte zwischen Wachen und Schlafen. Die Musik aus Kyles Radio wurde zu unterschiedslosem Gedudel, zu einem Klangteppich wie Meeresrauschen, ohne Bedeutung, ohne Konturen.
Erinnerungen … Dass Serenity ihn nach seinen Eltern gefragt hatte, hatte den inneren Projektor angeworfen, eine Filmrolle nach der anderen spulte vor seinem geistigen Auge ab. Wie er auf Dads Schoß saß, vor dessen Computer, und wie es ihn danach verlangt hatte, die Tastatur zu berühren – das war eine seiner frühesten Erinnerungen.
Damals konnte er nicht älter als drei gewesen sein. Wenig später hatte er zum ersten Mal mit der Maus spielen dürfen, hatte gelernt, wie man damit auf dem Bildschirm malte. Wie man das, was man gemalt hatte, wieder weglöschte, veränderte, Bildausschnitte zu Stempeln umdefinierte. Er hatte noch den Tonfall im Ohr, in dem Dad gesagt hatte: »Oh, ich wusste gar nicht, dass das geht.«
Er bekam Dads alten Computer und ein Programm, das ihm alles vorlas, was er eintippte. Damit brachte er sich in langen, versunkenen, herrlichen Stunden das Lesen und Schreiben selber bei, ja, er fand diese bis dahin so rätselhafte Fähigkeit der Erwachsenen auf einmal völlig logisch und einfach zu begreifen.
Im Grunde war das Lesenlernen auf eigene Faust sein erster Hack gewesen, dachte er heute. Er hatte ganz allein herausgekriegt, wie es ging. Und innerhalb von ein paar Tagen. Keine Schule hatte ihn gebremst.
Doch seine Mutter war nicht zufrieden gewesen. »Christopher muss auch mal raus«, hatte sie geschimpft. »Ein Fünfjähriger kann doch nicht den ganzen Tag vor dem Computer sitzen!«
Also schickten sie ihn zu Oma und Opa. In Opas Werkstatt roch er den Kleber, das heiße Metall, wenn etwas gebohrt oder gelötet wurde, den Geruch der Kunststoffe, wenn sie angerührt wurden oder nach dem Auftragen trocknen mussten. Er half Oma im Garten, hackte in den Beeten zwischen den Reihen von Mohrrüben oder Salatköpfen, durfte Beeren einsammeln und Äpfel auflesen und bekam Geschichten vorgelesen.
Aber egal, was er tat, und egal, wie viel Spaß es ihm machte, er vergaß niemals den Computer, der in seinem Zimmer auf ihn wartete. Der Computer, der wie ein Freund, ein Bruder, wie ein Stück von ihm selbst war. Der Computer, der ihm die Tür in unerforschte, aufregende Welten öffnete.
Und dabei hatte er damals noch gar keinen Internetanschluss gehabt.
Um diese Zeit herum kam er in die Schule. Was für eine Enttäuschung! Es ging nur um Lesen, Schreiben und Rechnen, und alles wurde auf eine sterbenslangweilige, umständliche Weise vermittelt. Die anderen Kinder taten sich schwer damit, was
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