Kohärenz 01 - Black*Out
Christopher nicht wunderte. Die meisten interessierte das Ganze nicht sonderlich; was sie interessierte, war Fußball spielen und rennen und einander schubsen und miteinander raufen. Es war ein echtes Problem, die langen Vormittage im Klassenzimmer zu überstehen. Christopher konnte längst lesen, längst schreiben, längst rechnen – Letzteres sogar besser als die Lehrerin –, was sollte er also tun?
Weil ihm nichts anderes einfiel, um seinen unruhigen, wissbegierigen Sohn zu beschäftigen, erklärte Dad ihm eines Tages die Grundbegriffe des Programmierens. Prozeduren. Variablenzuweisungen. Schleifen, Verzweigungen, Unterprogrammaufrufe.
Von da an gab es kein Halten mehr. Das war so faszinierend, dass Christopher alles andere bleiben ließ. Er fraß sich durch Handbücher, Programmbeispiele und Übungen, probierte aus, entwickelte eigene Routinen und Programme. Schon nach vier Wochen reichte ihm BASIC nicht mehr. Er lernte C, Prolog, Assembler, FORTRAN … Egal welche Sprache ihm unterkam, er begriff im Nu ihre Konzepte, ihre Möglichkeiten und Beschränkungen, saugte alles auf wie ein trockener Schwamm das Wasser.
»Wie du dir das alles merken kannst«, sagte Dad bisweilen, wenn Christopher ihm auswendig einen ASCII-Code nennen konnte oder die Parameter eines seltenen Befehls. Aber Christopher fand es einfach, sich solche Dinge zu merken: War doch besser, als sie jedes Mal nachschlagen zu müssen, oder?
Damit war die Schule kein Problem mehr. Er tat, als höre er zu, während er sich in Wirklichkeit Programme ausdachte, die er nachmittags umsetzte. Er erkundete das Betriebssystem seines Computers, analysierte die Komponenten, versuchte zu verstehen, wie die Systeme funktionierten. Irgendwann schrieb er eine Routine für eines von Dads Softwareprojekten, deren Code Dad ein anerkennendes Pfeifen entlockte, und bekam zur Belohnung seinen eigenen Internetzugang.
Keine Woche später fand er den ersten Virus auf seinem Computer.
Dieses Ding faszinierte ihn. Er isolierte das Schadprogramm, zerlegte und analysierte es und war hin und weg von den Konzepten, die er darin fand. In dieser Nacht konnte er nicht schlafen, weil sein Hirn unablässig Varianten davon austüftelte und dann noch einmal Varianten der Varianten. Wie von selbst produzierte sein Geist Algorithmen für Virenprogramme, die weit raffinierter waren als das, das er vorgefunden hatte, die sich besser tarnten, gewitzter fortpflanzten und mit größerer Effizienz verbreiteten.
Das wurde sein neues Hobby: Er schickte Viren hinaus in die Welt, die im Unterschied zu anderen einfach nichts taten, sich nicht bemerkbar machten und auch von den meisten Virenscannern nicht bemerkt wurden, und schickte ihnen andere Viren hinterher, die sie jagten und erlegten und die Zahl der erlegten Viren per Internet zurückmeldeten.
Ganz unbemerkt blieb sein Spiel allerdings nicht. Eine Handvoll Leute auf der Welt registrierten, was er tat, und versuchten, ihn aufzuspüren. Christopher bemerkte es rechtzeitig genug, um sich hinter Firewalls, anonymen Servern und einem Geflecht verschlüsselter Verbindungen zu verbergen.
»Wer bist du?«, fragte einer, der sich selber Pentabyte-Man nannte.
»Computer*Kid«, antwortete Christopher.
»Du bist gut, Mann!«, kam als Antwort.
Christopher kam ins Gymnasium. Hier wurde der Unterricht ein bisschen interessanter. In den langweiligen Fächern sorgte Christopher für hinreichend gute Noten, indem er sich in die Rechner der Lehrer hackte und sich jeweils die Aufgaben der nächsten Prüfung vorab besorgte: Das minimierte den Lernaufwand und ließ mehr Zeit für seine Forschungsreisen durch den Cyberspace.
Durch seine Mutter, die in einer der größten Banken Europas arbeitete, begriff er früh, dass es neben dem allgemein zugänglichen Computernetzwerk, das als Internet bekannt war, noch weitere, nicht ohne Weiteres zugängliche Netzwerke gab – zum Beispiel das der Banken. Die Computer aller Finanzinstitute weltweit waren auf eine Weise miteinander verbunden, die ein Eindringen von außen praktisch unmöglich machte.
Ein faszinierendes Problem.
Da sein Dad früher im Rechenzentrum derselben Bank gearbeitet hatte, fanden sich im Keller noch allerhand Unterlagen über die Struktur des Bankennetzwerks, die verwendeten Protokolle, Backup-Strategien und Sicherheitsmaßnahmen. Insgesamt waren es über fünftausend Seiten, doch Christopher las sie alle durch, dachte einige Wochen darüber nach und stellte schließlich Dad beim
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