Kohl des Zorns
ist mein Gebiet, nicht das Ihre, Inspektor. Ohne mich werden Sie nicht in den Eisernen Turm gelangen.«
Hovis kaute nachdenklich auf der Unterlippe und tippte mit seinem Stock auf den Boden. Die Konstabler wurden immer unruhiger. »Wenn ich Sie hineinführe«, fuhr Rune fort, »dann verlange ich die Belohnung. Wenn nicht, machen Sie meinetwegen, was Sie wollen. Von mir aus können Sie mich zum Staatsfeind Nummer eins erklären.«
»Woher soll ich wissen, daß ich Ihnen vertrauen kann?«
»Was haben Sie zu verlieren?«
»Also gut«, sagte Hovis schließlich. »Wir gehen heute nacht hinein.«
»Also gut«, sagte Rune. »Das machen wir.«
»Hipp hipp hurra!« riefen die Konstabler, und dann wunderten sie sich, warum.
Kurz nach drei Uhr hatte Neville die Kasse fertig. Trotz des Debakels hatte das Fliegende Schwan Inn ein höchst profitables Mittagsgeschäft hinter sich. Wenn Croughtons Hände in die Kasse gewandert waren, hatte Neville jedenfalls nichts bemerkt. Jetzt saß der Teilzeitbarmann in einem Stuhl, nippte an seinem Scotch und sann über die Eigentümlichkeiten der gegenwärtigen Zeiten nach. Der Kurs in Psychologie, den er als Gasthörer an der Universität belegt hatte, lieferte ihm keine Antworten auf seine Fragen. Aber was wußten Psychologen schon vom Leben? Ungefähr überhaupt nichts. Psychologie war das, was Geschichte für Henry Ford gewesen war: Quatsch.
Der Barmann nippte an seinem Scotch und dachte an all die Dinge, an die betrunkene Männer nun einmal denken. Warum Kriege, warum Geldgier, warum Religion, warum Rassendiskriminierung und noch eine ganze Menge weiterer Warums. Die Menschheit war ein einziges großes Rätsel, ein undurchschaubares Mysterium, und trotz aller Fragen würde niemand je die Antworten erfahren.
Nevilles Blicke wanderten über die Grenzen seiner kleinen Welt. Er war nun schon seit gut zwanzig Jahren im Fliegenden Schwan Inn. Er war Wirt, Vertrauter, Guru, Rausschmeißer und stets fröhlicher Gastgeber für eine Kundschaft, die er weder kannte noch verstand. Nacht für Nacht beobachtete er, wie sie sich von freundlichen, netten Persönlichkeiten in unfreundliche, abstoßende Betrunkene verwandelten, aber er kannte sie nicht. Sie waren im Grunde genommen nicht verkehrt, vielleicht ein wenig fehlgeleitet, aber wer war das in diesen Tagen nicht? Wer sollte sie auch führen? Vielleicht die von sich selbst besessenen Politiker, Medienmogule, Zeitungsmagnaten oder halb verrückten Kleriker? Wer außer Lektoren war heutzutage noch imstande, vernünftig zu argumentieren, bei all den falschen Informationen zu den falschen Themen? Neville sank tief in seinen Stuhl. Er war von oben bis unten angewidert.
Und diese Geschichte heute? Die Olympischen Spiele? Es war ganz offensichtlich, daß die Einwohner Brentfords nicht Teil davon waren. Die versprochenen Freikarten waren immer noch nicht da. Die Brentforder waren eben unwichtig. Sie spielten keine Rolle.
Es wurde zunehmend schwierig, das alles zu überdenken. Neville nahm einen kräftigen Schluck Scotch. Lag die Wahrheit vielleicht im Wein? Oder im Scotch? Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daran zu zweifeln. Lag überhaupt in irgend etwas Wahrheit? Einmal mehr sah sich der Teilzeitbarmann gezwungen zuzugeben, daß er es einfach nicht wußte.
Wohin waren sie alle verschwunden, die großartigen Gedanken seiner Jugend? Verkommen und zu etwas Banalem geworden durch ein lückenhaftes Gedächtnis und die Verantwortung der Gegenwart, und so ging es ihnen allen. Er erinnerte sich an die großen Träume Pooleys und Omallys. Er hatte zugesehen, wie sie zusammengeschmolzen waren, ihren Biß verloren hatten, und doch bewunderte Neville die beiden immer noch, weil sie frei waren.
Ungefähr der einzige Gast, der sich in all den Jahren nicht verändert hatte, war der Alte Pete. Aber der Alte Pete konnte wohl kaum als Vorbild dienen.
»Wo sind die guten Zeiten hin?« fragte sich Neville bitter. »Hätten wir sie mit derartiger Gleichgültigkeit hingenommen, wenn wir gewußt hätten, wie zerbrechlich sie sind?«
Er leerte sein Glas und schenkte sich ein weiteres aus. Das Leben ging weiter. Er mußte am Abend wieder öffnen, und die Karten mußten ausgespielt werden. Neville hatte nicht die geringste Ahnung, wohin das alles führte. Die Welt veränderte sich, und man hatte sich mit ihr zu verändern, oder man blieb zurück. Und die Tatsache, daß der gesamte Planet in Nevilles Augen den Gully hinunterging, bedeutete noch lange nicht, daß
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