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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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auf,
die er gerade durchsah, sondern beschied mich folgendermaßen:
    »Ach, die
Leut' sind halt noch sauer wegen der Umgehungsstraße, mach dir nix draus.«
    Mund
abputzen und weitermachen, als wäre nichts geschehen - eine Devise, von der er
selbst immer wieder profitierte. Den Hintergrund seiner Bemerkung bildete ein
lokalpolitischer Streit über den Verlauf der neuen Umgehungsstraße. Vater
hatte den Zorn des Klubs erregt, weil er seinerzeit eine Trasse befürwortete,
die das Vereinsgelände beschnitten hätte. Obwohl längst eine andere
Straßenführung realisiert worden war, vergaß man ihm das nicht so schnell. Mit
auszubaden hatte ich es, wieder einmal. Die Begebenheit im Vereinsheim wirkte
noch lange in mir nach. Scheu und vorsichtig unbekannten Menschen gegenüber
war ich bereits gewesen, nun wich ich neuen Begegnungen lieber gleich aus,
statt es darauf ankommen zu lassen. Ich hatte einen weiteren Schritt in
Richtung Opferland getan, hin zu jenem inneren Ort, wo es nichts zu geben
scheint als die Rolle des Verlierers und Versagers. Immer wieder zog ich es
vor, mich neuen Bekanntschaften zu verweigern, aus Furcht, doch nur wieder
enttäuscht zu werden. Es schien ja niemand an mir selbst, an Walter, interessiert
zu sein - ich war und blieb der »Sohn vom Kohl«.
    Doch Not
macht erfinderisch. Und wieder lernte ich etwas Neues, wobei mein immer noch
kindliches Gemüt mir einen beträchtlichen Dienst leistete: Wenn schon kein
Freund für mich da war, keine Gesellschaft Gleichgesinnter, die ich genießen
konnte, dann wollte ich mir wenigstens selbst ein Freund sein! Diese an sich
einfache Idee erwies sich als unerwartet fruchtbar. Sie erhellte meinen oft so
glanzlosen Alltag spürbar und nachhaltig. Ganz allein unternahm ich jetzt
Streifzüge durch die Weiherlandschaft und die Wälder, die sich hinter unserem
Haus kilometerweit erstreckten. Ich verbrachte meine Nachmittage in Feld und
Wald und entdeckte in gewisser Weise eine neue Welt. Es war nicht zuletzt auch
die Welt der Fantasie. Ich überließ meiner Vorstellungskraft die Zügel und
gewann einem selbst erfundenen Rollenspiel großen Reiz ab. Bei meinen Ausflügen
imaginierte ich mich als Entdeckungsreisender, der einen fremden Kontinent erforschte.
Sich von der Natur berühren zu lassen, tat ein Übriges. So fand ich doch immer
wieder in meine Mitte zurück.
    Es war
eine relativ kurze Phase, ein einziger Sommer wohl nur, aber eine Erfahrung mit
Folgen, die einen festen Stein in meine seelischen Fundamente legte. Viel
später noch kehrte ich in kritischen Momenten immer wieder in die Natur zurück.
Stets war es so, als ob ein innerer Schalter umgelegt würde, und ich vermochte
in den Ruhe- und Entspannungsmodus einzutreten. Natur heilt. Immer wieder habe
ich diese Erfahrung glücklicherweise nutzen können.
    Nun lösten
die politischen Aktivitäten meines Vaters gewiss nicht nur Ablehnung in der
Bevölkerung aus, im Gegenteil, viele Menschen unterstützen seine Politik
vehement. Die zahlreichen Wahlen, die er gewann, bezeugen es eindrucksvoll. Er
ist und bleibt ein bedeutender Mann mit einer großen politischen
Lebensleistung. Indem ich die Rede auf die große Beliebtheit meines Vaters »bei
den Menschen«, wie er zu sagen pflegt, bringe, möchte ich den Blick auch auf
eines lenken: Nicht nur die Ablehnung, der Ärger und, ja, auch der Hass,
sondern prinzipiell alle intensiven
Gefühle, die wildfremde Menschen einem charismatischen Menschen entgegenbringen,
haben Folgen für sein Kind. Unbestreitbar ist ja, dass meinem Vater immer
wieder von vielen Menschen ehrlichste Hochachtung, gar eine Verehrung, die
manchmal ans Kultische grenzte, bezeigt wurde. Doch auch diese positive
Übersteigerung konnte für mich zur Bürde werden.
    Das
Diffizile in unserem Verhältnis zueinander wurzelte in letzter Konsequenz nicht
im Persönlichen, sondern im Systemischen, wobei zu einem ganz gewöhnlichen
Generationenkonflikt eben noch die problematische Würze eines Familienlebens
im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit kam. Dass Helmut als Vater und Walter
als Sohn ein und dieselbe Begebenheit unter Umständen völlig konträr erlebten,
lag nicht an ihnen selbst, sondern in der Natur der Sache. Nirgendwo sonst
wurde das so deutlich wie in Situationen, da die psychische Belastung des
Sohnes von den positiven Gefühlen ausging, welche die Menschen dem Vater
entgegenbrachten.
    Immer
wieder gingen Vater, Peter und ich am Sonntagmorgen gemeinsam in die Kirche,
entweder bei uns

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