Kohl, Walter
daheim in Ludwigshafen, in Mannheim oder in den Speyerer Dom.
Mutter war Protestantin, sie schloss sich uns nicht an, blieb zu Hause und
bereitete das Mittagessen vor. Ich besuchte den Gottesdienst eigentlich gern,
doch danach begann etwas, das für uns Brüder einer regelrechten Tortur
gleichkam. Wir konnten ja nicht einfach so nach Hause gehen, wie andere
Kirchgänger. Draußen hob regelmäßig ein großes Hallo an. Der Ministerpräsident
von Rheinland-Pfalz und CDU-Parteivorsitzende war hier, ein Politiker zum
Anfassen. Längst nicht alle, die seinen Kontakt suchten, waren Schaulustige,
die sich mit einem Autogramm oder einem Händeschütteln begnügten. Nicht wenige
trugen ihm ihre persönlichen Anliegen vor. Diese Momente waren eine Keimzelle
seiner Popularität. Aus gutem Grund, denn er hatte die Gabe, jedem das Gefühl
zu vermitteln, wenigstens für kurze Zeit seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu
genießen. Und er hielt Versprechen, wie all die Dankesbriefe der Leute
bewiesen, die immer wieder bei uns zu Hause eintrafen, weil er ihnen auf die
eine oder andere Weise Hilfe zuteil werden ließ.
Natürlich
brachte das Bad in der Menge ihm selbst auch eine Schnellaufladung seines
politischen Egos, es war eine dankbar angenommene Möglichkeit, die heißersehnte
Anerkennung und Bewunderung seiner treuesten Anhänger zu spüren. Es stiftete
Sinn in seinem Leben und schenkte Freuden, die der politische Alltag ihm nicht
immer zu geben vermochte. So manche Kratzer und Wunden, die er unter der Woche
in Bonn oder Mainz erlitten hatte, wurden bei ihm durch dieses
nachgottesdienstliche, geradezu rituelle Geschehen geheilt oder wenigstens
doch gelindert. Es war wie Balsam für seine Seele.
Und wir
Kinder? Für uns beide, zwei Brüder von zehn, elf Jahren, war es das nachgerade
Gegenteil. Es war eine Prüfung. Aus der besinnlichen Stille des Gottesdienstes
wurden wir in den Lärm und die drangvolle Enge eines politischen Happenings
katapultiert. Wildfremde Menschen umringten uns, uns wurde die Wange
gestreichelt, in die Oberarme geknufft und auf die Schulter gehauen. Wir
fühlten uns abgeklopft wie Vieh auf dem Markt. Und dann die ewig-gleichen
Kommentare: aufmunternd, bewundernd oder auch neidvoll gemeint. Es gab zwei
Standardthemen - ob wir unseren Vater nicht auch toll fänden und wie es denn so
sei, als Sohn eines derart bedeutenden Mannes. Ja, ich hasste es, und im tiefsten
Innern fühlte ich mich bestohlen, denn diese Leute raubten ein weiteres Stück
von jener äußerst knapp bemessenen Zeit, die Vater uns Kindern widmete. Aber
meine Gefühle hätten eh niemanden interessiert. Also schwieg ich lieber und
machte das, was ein wohlerzogenes Kind in der Öffentlichkeit seinen Eltern
zuliebe zu machen hat, nämlich gute Miene zum bösen Spiel. Mit der Zeit
entwickelte ich eine immer tiefere Abneigung gegen unsere gemeinsamen
Kirchgänge, nicht wegen des Gottesdienstes, sondern wegen dieses Nachspiels.
Ich ließ
nichts unversucht, Vater meine Frustration zu verdeutlichen. Aber stets blieb
es beim Versuch. Seine Antworten waren je nach Gemütslage mal ruhig oder
erregt, aber immer bestimmt, glashart und final:
»Sei doch
froh, dass die Leute kommen! Es wäre schlimm, wenn sie nicht da wären.«
Die Logik
dahinter - dass meine eigene Existenz unauflöslich mit seinen politischen
Erfolgen und Misserfolgen verbunden sein sollte - vermochte ich intellektuell
noch nicht vollständig zu erfassen. Emotional jedoch kochte es in mir.
Einmal
nahm ich auf der Rückfahrt nach Oggersheim all meinen Mut zusammen und wagte
es zu sagen, dass andere Kinder so etwas nicht mitmachen müssten und dass ich
es auch nicht einsehen würde. Doch damit war nur der sonntägliche Familienfrieden
ernsthaft gestört. Im Ergebnis blieb alles, wie es war - bis der ständig sich
erweiternde Terminkalender eines Spitzenpolitikers auch dieser gemeinsamen
familiären Aktivität zunehmend ein Ende setzte.
Im Sommer
1973 wechselte ich auf das Carl-Bosch-Gymnasium in Ludwigshafen. Ich hatte aus
meinen Erfahrungen gelernt und war nun besser in der Lage, manchem von vornherein
aus dem Weg zu gehen. Der Preis dafür war allerdings, dass ich nie in
Vollkontakt mit der Gemeinschaft kam, sondern gleichsam im Zustand einer
sozialen Halbisolation verharrte, in dem echte gegenseitige Zuneigung kaum
wachsen konnte. Es schien zum Normalzustand zu werden, dass ich in der Gemeinschaft
der Schulkinder immer ein Fremdkörper sein, dass ich nie voll und ganz als
einer der
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