Kohl, Walter
wehren kann. Der vor mir holt aus und
verpasst mir mit dem Handrücken eine schmerzhafte Backpfeife. Und noch eine.
Die anderen beiden wollen auf ihren Teil vom Spaß nicht verzichten und schlagen
mich in die Nieren, auf den Kopf, in den Bauch. Ich beziehe eine saftige Tracht
Prügel, mir wird schwarz vor Augen. Als ich die Augen wieder öffne, liege ich
mit dem Kopf im Urinal. Mir brummt der Schädel, ich ertaste eine Beule am
Hinterkopf, ich muss wohl damit auf die Fliesen aufgeschlagen sein. Meine
Peiniger sind weg.
Ich rapple
mich auf und reinige mich, so gut es geht, am Waschbecken.
Trotz der
Schmerzen am ganzen Körper arbeitet mein Hirn fieberhaft an einem Problem: Soll
ich den Vorfall melden oder nicht? Würde man mir überhaupt glauben? Schließlich
waren sie zu viert, ich dagegen habe keinen einzigen Zeugen. Und selbst wenn
man mir glaubte, wohin würde das führen? Wenn sie bestraft würden, könnten sie
mit dem Finger auf mich weisen und es überall hinausposaunen:
»Da kann
man mal sehen - dem Sohn vom Kohl, dem glaubt man alles, und uns glaubt man
nichts, obwohl wir zu viert sind!«
Alles, nur nicht
das!
Und jetzt?
Es klingelt, die Pause ist zu Ende, der Gang leert sich. Ich bin unschlüssig,
das Herz schlägt mir bis zum Hals, Tränen steigen mir in die Augen. Nein, ich
kann und will jetzt nicht in die Klasse. Also laufe ich die Treppe hinunter in
den Hof. In der letzten Ecke, dort, wo die Laufbahn für den Sportunterricht
endet, wo Bäume und Büsche stehen, verstecke ich mich. Ich sitze nur da und
heule Rotz und Wasser. Geräuschlos.
Keiner
soll mich hier finden. Keiner soll mich so sehen.
Ich weiß,
ehrlich gesagt, nicht mehr, mit welcher Entschuldigung ich mein verspätetes
Auftauchen in der Klasse begründete. Ich weiß nur noch, dass es mir gelang,
den wahren Grund dafür zu verbergen. Woran ich mich allerdings sehr genau
erinnern kann, ist die Situation, die mich zu Hause erwartete.
Es war
kurz vor der Bundestagswahl 1976. Helmut Kohl trat erstmals als Kanzlerkandidat
der CDU/CSU an. Unser Haus war zu einer Art Wahlkampfzentrale umfunktioniert,
damit Vater sieben Tage in der Woche einsatzbereit sein konnte. Nicht nur in
seinem Büro, auch in unserem Wohnzimmer und auf dem Flur summte und brummte es
nur so vor hektischer Betriebsamkeit. Die absurde Analogie zum Aufruhr in
meinem schmerzenden Schädel zwang mir im Augenblick, da ich die Schwelle
übertrat, eine ernüchternde Erkenntnis auf.
Hier ist jetzt
keiner für dich da.
Wortlos,
möglichst unauffällig, ging ich in mein Zimmer im Obergeschoss. Tür zu.
Gardinen vor. Möglichst nichts mehr sehen und hören. Nur noch Brummen im Kopf.
Aber nein,
da gab es einen Menschen, der mitbekommen hatte, dass ich da bin. Meine Mutter
kam ins Zimmer, schaute mich fragend an.
»Ist dir
schlecht?«
»Nur etwas
Kopfschmerzen.«
»Hast du
keinen Hunger?«
»Doch, ich
komme schon.«
Wahlkampf
ist einfach mit das Schlimmste, was es gibt.
Der einzige
Mensch, dem ich mich in meiner eklatanten Erbärmlichkeit öffnen mochte, war
mein Bruder. Er war in der gleichen Situation, er verstand mich. Er hörte stets
zu, ohne sofort Ratschläge geben zu wollen, er sympathisierte bedingungslos
mit mir. Das fühlte sich gut an. Mit Mutter hingegen habe ich nie über das
Ereignis sprechen können. Der Grund dafür war nicht etwa, dass sie nicht zur
Verfügung gestanden hätte, denn bald hätte ich sicher die Gelegenheit gehabt,
sie beiseite zu nehmen. Sie entzog sich nie, wenn wir ihr etwas anvertrauen
wollten. Der eigentliche Grund war, dass ich mich schämte. Ich schämte mich
zutiefst für das, was geschehen war, obwohl ich nichts dafür konnte. Die
erlittene Verwundung vernarbte, doch die bohrenden Fragen blieben.
Bin ich
schlecht, dass mir so etwas immer wieder passiert?
Bin ich so
unwichtig, dass niemand mich so nimmt, wie ich bin?
Werde ich
für immer wehrlos bleiben?
Fragen,
die sich in eine kindliche Psyche fressen wie ätzende Säure. Die entweder zur
Implosion oder zur Explosion der Kräfte fuhren, die dort wirken und die
irgendwann nicht mehr zu halten sein werden. In der damaligen Lebensphase
führte mein Weg eher in Richtung Explosion. Meine Pubertät begann, und das
einsetzende körperliche Wachstum erlaubte es mir, mir immer weniger bieten
lassen zu müssen. Eine Zeit lang nach dem beschriebenen Ereignis habe ich in
der Schule stets nur die Toilette direkt gegenüber dem Lehrerzimmer aufgesucht.
Dann aber fand ich in einem Jugendbuch die
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