Kokoschkins Reise
Schiff, das aus dem freien Odessa in die Türkei fuhr.
Am nächsten Tag marschierte die bolschewistische Kavalleriebrigade Kotowski in Odessa ein.»
Hlaváček sagte: «Und Ihre Mutter ist mit Ihnen noch zwei Jahre geblieben.»
«Zwei Jahre. Dann wollte auch sie weg. Meinetwegen. Die Bolschewisierung der Schule …»
«Makarenko?»
«Die kommunistische Kollektiverziehung griff um sich. Übrigens, Makarenko stieg später zum Hauspädagogen des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes auf.»
«Das wusste ich nicht.»
«Meine Reiselust ist gestillt», sagte Kokoschkin. «Bis zu meiner Rückreise in die Staaten soll Berlin das Standquartier sein.»
Am nächsten Morgen, 24. August, flogen Kokoschkin und Hlaváček nach Berlin.
ZWEITER TAG AUF SEE
10. September 2005
Am Morgen des zweiten Tages auf See verzichtete Kokoschkin wieder auf das Frühstück im Britannia Restaurant. Die Aussicht, dort Olga Noborra zu treffen, war gering.
Der Monitor in der Kabine zeigte 20° C Außentemperatur an. Kokoschkin beschloß, den Vormittag mit Lektüre im Liegestuhl auf dem Promenadendeck zu verbringen.
Im Aufzug ein älteres Ehepaar in Bademänteln und Badesandalen. Die Frau sagte: «Das ist nicht unsere normale Garderobe. Wir gehen schwimmen!»
Morgenaktivitäten! Die Passagiere können von 9 : 00 bis 11 : 30 Uhr wählen: Bridge-Unterricht für Anfänger, Golfsimulator, Shuffleboard-Turnier, Kunstauktion, Royal Academy of Dramatic Art-Workshop, Musikquiz, Schmuck-Fashionshow, Tuchbinden («Bitte bringen Sie Ihr eigenes quadratisches Tuch mit»), Rätselrunde und noch mehr.
Kokoschkin fragte sich: Wollen die Passagiere das? Ja, sie wollen es.
Kokoschkin wollte es nicht. Er lag im Liegestuhl, sein Blick suchte den Horizont ab. Kein Schiff weit und breit. Es war sonnig. Die See ruhig. Das gleichmäßige Tempodes Schiffes erschien Kokoschkin menschengemäß. Die Frage der meisten Passagiere, die die «Morgenaktivitäten» wählten, schien zu lauten: Wie schlagen wir die Zeit tot? Sie flohen die Ruhe auf See.
Kokoschkin, der die Ruhe suchte, hatte anderes im Sinn. Er wollte die Zeit verlängern.
Olga Noborra kam zum Lunch. Kokoschkin freute sich und sagte es ihr.
Sie fragte ihn, ob er sein Buch über Halme und Gräser auf die Reise mitgenommen habe. Sie wolle es sich ansehen. Auch ihr Mann interessiere sich dafür.
«Ich werde es Ihnen aus Boston schicken.»
«Erinnern Sie mich bitte daran, daß ich Ihnen unsere Adresse gebe.»
Lucy sagte: «Wie geht es Ihnen, Herr Sachnowski?»
«Danke. Ich habe mich erholt. Allerdings … Auf diesem Schiff gibt es alles, nur keine Übungsräume für Musiker.»
«Sie haben uns gar nicht verraten, welches Instrument Sie spielen», sagte Frank.
«Fagott.»
«Ich liebe Fagott.»
«Das freut mich.»
«Soviel ich weiß, gibt es ziemlich wenig Kompositionen für Fagott als Soloinstrument.»
«Verglichen mit Trompete, Flöte, Oboe, Horn – ja. Ganz zu schweigen von Klavier, Violine, Cello … Aber es gibt doch genug, um sich zu beschäftigen.»
«Das glaube ich Ihnen wohl. Haben Sie schon einmal als Solist eines Fagottkonzertes gespielt?»
«Nein. Ich arbeite daran. Aber bis dahin ist es noch weit.»
«Welches Konzert ist es?»
«Das Konzert in g-Moll von Franz Danzi.»
Der Kellner wartete.
Olga Noborra bestellte Chilled Tomato Soup mit Gin and Basil und Navarin of Lamb, Root Vegetables, Saffron Rice. Zum Dessert Panna Cotta mit Apricot Compote.
Kokoschkin ließ die Vorspeise aus und bestellte wieder Grilled Swordfish Steak, Lemon and Oregano Oil, Niçoise Olive Relish. Als Dessert Sugar Free Ice Coffee Strasbourg.
Oakley sagte, die Schöpfer des Klonschafes Dolly hätten sechs menschliche Embryonen erzeugt, ohne dabei Spermien zur Befruchtung einzusetzen. Es handle sich um künstlich hervorgerufene Teilungen von Eizellen. Jungfrauenzeugung oder Parthenogenese nenne man das.
Lucy bemerkte, sie wisse nicht, ob das ein geeignetes Gesprächsthema beim Lunch sei. Oakley sagte, Frau Lucy verfüge offenbar über einen Kanon tischuntauglicher Themen.
«Ach, Herr Oakley, ich frage mich nur, ob es nicht auch schöne Dinge gibt, über die man beim Essen reden kann.»
«Liebe Frau Lucy, die Parthenogenese erlaubt es vielleichteinmal, Stammzellen zu erzeugen für die Produktion von menschlichem Gewebe oder von Organen. Man könnte Krankheiten heilen, die bis jetzt unheilbar sind. Womöglich kommt es Ihren eigenen Kindern zugute. Ist das nicht
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