Kokoschkins Reise
habe.
Alle Jahre am Sonntag Oculi die Konfirmation. EinFesttag für das ganze Gymnasium. Die Anstalt war eine selbständige evangelische Kirchengemeinde.»
«Zu der Sie nicht gehörten.»
«Ich wurde nicht konfirmiert. Aber ich habe doch an den Festivitäten als Zuschauer teilgenommen.»
«Das Gymnasium hatte einen eigenen Geistlichen?»
«Einer der Alumnats-Inspektoren, Martin Kegel, war Prediger, Lehrer und Erzieher. Bis Neunzehnhundertsiebenundzwanzig. Er war Studienrat und Pfarrer. Er hat unter anderem Deutsch unterrichtet. Ich mochte ihn sehr.
Die Erinnerungen an die Jahre im Joachimsthalschen Gymnasium, der Gleichlauf des Schullebens, verschwimmen. Einige Ereignisse sind mir besonders in Erinnerung geblieben.
Neunzehnhundertfünfundzwanzig kam ein neuer Rektor nach Templin. Eine große Überraschung. Es war Professor Kappus, Rektor des Grunewald-Gymnasiums in Berlin, dem ich eigentlich die Aufnahme ins Joachimsthalsche Gymnasium verdankte; er löste Professor Graeber in Templin ab.
Er hatte sich meiner erinnert und ließ mich eines Tages zu sich kommen.
‹Aus dem schüchternen Jungen von damals ist ein kräftiger Alumnus geworden›, sagte er, und ‹Bist du deiner Muttersprache treu geblieben?›.
‹Aber ja! Ich singe sogar russische Volkslieder, die ich von Mama gelernt habe.›
‹Welche Lieder sind es?›
‹Zum Beispiel Slawnoje morje – swjaschtschenni Baikal …›
‹Ah, Herrlicher Baikal.›
‹Und Odnoswutschno gremit kolokoltschik …›
‹Eintönig klingt das Glöckchen. Kennst du alle Strophen?›
‹Nein. Nur zwei.›
‹Welches Lied noch?›
‹Ej uchnem! Ej uchnem!›
‹Die Wolgatreidler.›
‹Außerdem ein georgisches Lied, aber in russischer Sprache.›
‹Darf ich raten? Suliko?›
‹Ja. ‚Dolgo ja tomilsja i stradal‘.›
‹Lange litt ich Qual und Leid. Wo bist du bloß, meine Suliko?›»
Hlaváček sagte: «Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Uns hat man gesagt, Suliko sei Stalins Lieblingslied, und deshalb mußten wir es lernen. ‹Lange litt ich Qual …›, kann ich dazu nur sagen.»
«Das wußte man damals noch nicht. Professor Kappus sagte: ‹Man muß die Lieder zur Balalaika singen.›
‹Ich spiele Banjo dazu›, sagte ich.
‹Vielleicht können wir eine Balalaika besorgen. Ich will mit dem Musiklehrer sprechen. Du könntest die Lieder bei Gelegenheit vortragen?›
‹Im Alumnat?›
‹Oder in der Aula›.»
«Wollen Sie nicht nach Templin fahren?» fragte Hlaváček.
«Neinnein. Ich habe gehört, daß die Gebäude verschlossen sind und verfallen.
Es war natürlich ein Glück für mich, daß ich das Joachimsthalsche Gymnasium besuchen konnte. Aber es gab auch eine andere Seite, Mama lebte in der Pension Crampe in Berlin. Ich bin nicht wie die meisten Schulkameraden an den Wochenenden nach Hause gefahren. Ich hatte kein Zuhause. Die meisten anderen hatten Elternhäuser nicht allzuweit von Templin entfernt. Ich konnte nicht einmal in den Ferien immer nach Berlin fahren.
Ende Neunzehnhundertfünfundzwanzig zog Mama nach Paris. Sie wollte in der Nähe von Nina Berberova und Chodassewitsch sein, die Berlin Neunzehnhundertvierundzwanzig verlassen hatten. Nina und Chodassewitsch verbrachten den Winter Neunzehnhundertvierundzwanzig bei Gorki in Sorrent und wohnten ab April Neunzehnhundertfünfundzwanzig in Paris. Abgesehen von den ärmlichen Verhältnissen, in denen Nina und Chodassewitsch und schließlich auch Mama in Paris lebten – Mama in Paris, und ich auf dem Abstellgleis deutsches Internat.
Im Hauptgebäude des Joachimsthalschen Gymnasiums fiel einem als erstes die Inschrift ins Auge: ‹Dic cur hic›. Wäre ich verbittert gewesen, dann hätte ich antworten können: ‹Weil ich kein Zuhause habe.›
Neinnein, ich möchte nicht nach Templin fahren.
Professor Kappus schlug mir vor, gemeinsam russischeLiteratur zu lesen. Er wollte die Texte auf Russisch, ich sollte die deutsche Übersetzung lesen.
Der Vorschlag gefiel mir sehr. Ich fragte ihn, an welches Buch er zuerst denke.
‹An Turgenjew, Aufzeichnungen eines Jägers. Kennst du es?›
Ich kannte es nicht.
Er lud für Sonntagnachmittag in sein Haus ein. Frau Kappus bereitete Tee. Ich wollte lieber Ovomaltine. Sie setzte mir eine große Tasse Ovomaltine vor, Professor Kappus trank Tee.
Er gab mir die deutsche Übersetzung von Alexander Eliasberg und sagte, ich solle seine, er wolle meine Aussprache verbessern. Wir fingen mit Chorj und Kalynitsch an. Professor Kappus
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