Kokoschkins Reise
Lehrer kam, übergab der Adjunkt mich dem Lehrer. Es war der Geographie-Lehrer. Er stellte mich der Klasse vor, wies mir einen Platz an und begann mit dem Unterricht. Ich verstand fast nichts.»
«Das war zu erwarten.»
«Ich nahm Deutschunterricht bei einem Primaner, der Lehrer werden wollte. Den hatte der Adjunkt mir vermittelt.Natürlich mußte der Primaner bezahlt werden. Geld hatte ich keines. Der Primaner bekam das Geld von der Anstaltskasse. Der Rektor, Professor Graeber, hatte es angeordnet.»
«Sie wurden sehr großzügig behandelt.»
«Ja. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil Professor Graeber von unserem Familienschicksal berührt war. Er hatte auch verfügt, daß ich im ersten Jahr keine Noten bekommen sollte. Ich konnte keine Bücher kaufen. Ich bekam sie aus der Gymnasiums-Hilfsbücherei leihweise umsonst. Ich hätte auch Bettzeug mitbringen müssen, Wolldecken und Kopfkissen. Mama hatte das nicht gewußt, und sie hat auch kein Bettzeug besessen. Die Hausdame war am ersten Tag mit mir ins Wirtschaftsgebäude gegangen und hatte mir das Bettzeug geben lassen. Übrigens gab es im Wirtschaftsgebäude eine Wäscherei und eine Roll- und Plättstube. Dort konnte ich meine Wäsche waschen lassen. Meine Wäsche war allerdings nicht gezeichnet, und so mußte ich unter der Anleitung der Hausdame alle Stücke zeichnen; die Hausdame hat mir tatkräftig geholfen.
Ich war vom Schulgeld, vom Hausgeld und vom Beitrag zu den Arzt- und Arzneikosten befreit. Das Joachimsthalsche Gymnasium hat über Jahre mein Leben und meine Schulbildung finanziert.»
«Wie sah der Lehrplan aus?»
«Das Joachimsthalsche Gymnasium war ein humanistisches Gymnasium. Als ich in die Quarta aufgenommen wurde, waren die Lateinkenntnisse von Sexta undQuinta vorausgesetzt. In der Quarta fing der Englischunterricht an, in der Untertertia Griechisch.»
«Und wie sah es mit Ihrem Latein aus?»
«Mäßig. Ich hatte in Petersburg Latein gehabt. Aber ich kam in Templin mit.»
«Eines verstehe ich nicht. Für die Aufnahme ins Gymnasium brauchte man doch Papiere. Ihre Mama hat aber keine Papiere vorgelegt.»
«Einige doch. Ich habe vergessen, das zu erwähnen. Sie hat dem Rektor meine Geburtsurkunde und meine Zeugnisse aus Petersburg und Odessa vorgelegt. Die Zeugnisse hat sich Professor Graeber gründlich angesehen. Ob er sie überhaupt lesen konnte, weiß ich nicht. Eine Erklärung über Mamas Vermögensverhältnisse hat er natürlich nicht verlangt. Also auch keine Bescheinigung, daß sie die Kosten meines Unterhalts zu bestreiten vermag. Es fehlte ein Impfzeugnis für die letzten zwei Jahre. Professor Graeber verlangte ein Zeugnis über die Wiederimpfung. Ich mußte mich deshalb in Berlin impfen lassen, und Mama hat das Zeugnis nach Templin geschickt. Zwei Probleme aber hatte es doch gegeben. Die Schüler mußten Söhne preußischer Staatsangehöriger und evangelischen Glaubens sein. Beides war ich nicht. Wie Professor Graeber das geregelt hat – keine Ahnung. Später habe ich gehört, daß evangelische Schüler aus dem ehemaligen Polen, soweit es zum Deutschen Reich gehört hatte, aufgenommen worden waren. Vielleicht hat Professor Graeber mich zu denen gerechnet.
Der Umgang mit den Schulkameraden, der Unterricht, die Nachhilfe – jedenfalls sprach ich nach einem Jahr ziemlich gut Deutsch.»
«Die Schulkameraden – woher kamen sie?»
«Vor allem aus Mecklenburg, Pommern, Brandenburg. Söhne von Gutsbesitzern, niederem Landadel. Aber auch aus anderen Provinzen, aus Beamten- und Pastorenhäusern.»
«Mit denen haben Sie sich vertragen.»
«Sicher. Ich war kräftig, sportlich. Und ich wurde allmählich immer besser in der Schule. Sie haben mich respektiert. Natürlich gibt es in Internaten immer Reibereien, kleine Kämpfe, Bosheiten. Ich war ein Teil davon. Aber ich will Sie nicht mit Internatsgeschichten langweilen. Es sind doch immer die gleichen. Außerhalb der Hausarbeitsstunden von sechzehn bis achtzehn Uhr hatten wir viel freie Zeit für den Sport. Auch für den Wassersport. Das Gymnasium liegt direkt am Stadtsee. Im Winter natürlich Eislauf. Und ich besuchte die Tanzabende.»
«Es war ein Gymnasium für Jungen.»
«Zum Tanz mit den Gymnasiasten kamen Mädchen aus Templin und aus der Umgebung.
Ein großes Ereignis – die Weihnachtsfeier am Abend vor dem Ferienbeginn, mit allerlei Vorführungen und mit der satirischen Weihnachtszeitung, für die ich später selbst Beiträge geschrieben und Karikaturen gezeichnet
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