Kokoschkins Reise
las eine halbe Seite. Ich versuchte, seine Satzmelodie zu kritisieren, die gelegentlich nach Deutsch klang. Er hielt mir entgegen, daß ich zur russischen Satzmelodie neigte.
Wir lasen ungefähr eine Stunde. So ging es Sonntag für Sonntag. Die Lesestunden bei Professor Kappus gehören zu meinen besten Templin-Erinnerungen.»
«Und das Banjo? Die Balalaika? Singen? Tanzen? Schwimmen? Rudern? Angeln?»
«Aus der Balalaika wurde nichts. In der Aula russische Lieder vorsingen? Nein. Ich blieb beim Banjo und habe im Musikzimmer gesungen, Chansons, so gut es ging, vor allem Schlager.
Tanzen liebte ich wie Schwimmen und Rudern. Auch Eislaufen. Damals fing ich mit dem Angeln an. SogarEisangeln. Einige Schulkameraden und ich – wir waren Hobby-Sportfischer. Die gefangenen Fische ließen wir zurück in den See. Was hätten wir damit anfangen sollen?
Na ja. Die wilden Zwanziger sind an Templin vorübergegangen.
Nach der Matura bin ich noch eine Woche in Templin geblieben. Bin schwimmen gegangen, habe mich erholt …»
«Von der Matura erzählen Sie mir nichts?»
«Neunzehnhundertneunundzwanzig. Es war einfach eine Schinderei. Aber ich bin gut durchgekommen. Es hätte besser sein können.
Mama erschien nicht zur Abschlußfeier. Sie hatte mir aber einen neuen gebrauchten Anzug geschickt, der mir zu groß war. Unsere Hausdame hat den Hosenbund enger gemacht, aber das Sakko …
Nach einer Woche Erholung habe ich mich im Internat verabschiedet. Von meinem Alumnats-Inspektor, von der Hausdame, vom Adjunkten, von Schulkameraden, die noch geblieben waren, und natürlich von Professor Kappus. Er fragte mich, was ich vorhätte.
Ich sagte, zuallererst wolle ich mich bei ihm bedanken für die freien Jahre im Gymnasium. Ohne ihn …
‹Schon gut.›
Ich wolle zu Mama nach Paris fahren.
‹Und dann?›
Ich wüßte es noch nicht.
Nach allem, was er über mich wisse, rate er mir, Biologiezu studieren, mit dem besonderen Akzent auf Botanik.
Ich wüßte nicht, wie ich das Studium finanzieren sollte.
Professor Kappus meinte, es wäre für mich richtig, in Berlin zu studieren. ‹Sie kennen Berlin …›
‹Ein bißchen …›
‹Sie sprechen Deutsch. Alles andere wird sich finden.›»
«Ich kratzte meine Ersparnisse zusammen und kaufte mir eine Fahrkarte dritter Klasse nach Paris.»
«Fahren wir doch nach Paris», sagte Hlaváček.
«O nein. Ich war oft in Paris. Und ich habe das Pretty Hotel und die Straßen gesehen, wo Mama gewohnt hat. Sie wohnte immer in der Nähe von Nina Berberova und Chodassewitsch. Mama hat es mir Neunzehnhundertneunundzwanzig erzählt. Als sie Ende Neunzehnhundertfünfundzwanzig nach Paris kam, zog sie ins Pretty Hotel in der Rue Amélie, weil dort Nina mit Chodassewitsch wohnte. Das Hotel war damals billig und schmutzig, eine Art Absteige. Und aber immer noch zu teuer für Nina und Chodassewitsch, auch für Mama, die immerhin noch Geld und Schmuck besaß. Also Nina und Chodassewitsch zogen in eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung – mit einer winzigen Küche – in der Nähe des Place Daumesnil. Und Mama folgte ihnen. Sie mietete eine Ein-Zimmer-Wohnung mit jämmerlicher Küche. Sie mußte sich ein billiges Bettgestell, eine dünneMatratze, Tisch und Stuhl kaufen. Statt eines Kleiderschrankes einen Garderobenständer. Nichts in der Küche außer einem kleinen Tisch.
Schließlich zogen Nina und Chodassewitsch in eine kleine Wohnung in der Rue Lamblardie. Mama zog wieder hinterher. Ich traf sie Neunzehnhundertneunundzwanzig in ihrem sogenannten Hutsalon in der Rue Lamblardie. Ein schmales Lädchen mit einem Hinterzimmer, in dem sie wohnte. Der Ladenraum war durch einen Vorhang unterteilt. Im vorderen Teil der Ladentisch und Regale, im hinteren Teil die Hutmacherwerkstatt: ein Arbeitstisch, ein Stuhl, eine Chaiselongue. Mama hatte sich darauf verlegt, modische Damenhüte zu machen. Außerdem verkaufte sie Kurzwaren: Knöpfe, Schnallen, Zwirne, Bänder, Reißverschlüsse, Nadeln. Im Schaufenster sah man die Hüte. Es kamen meistens Frauen, die ihre Hüte reparieren oder mit neuen Dekors versehen lassen wollten. Das ‹Hauptgeschäft› war der Verkauf von Kurzwaren.
Mama ordnete gerade Schnallen in ein Regal, als ich ihren Laden betrat. Sie war allein. Sie stieß einen Schrei aus und fiel mir um den Hals. Ich umarmte sie, und sie weinte. Wir hatten uns seit sechs Jahren nicht gesehen. Ich war ein kräftiger junger Mann geworden und größer als sie. Sie schloß die Ladentür ab und
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