Kokoschkins Reise
dirigierte mich ins Hinterzimmer. Es hatte ein vergittertes Fenster zum Hof. Ich mußte mich an ihren kleinen Tisch setzen. Sie bereitete uns in einer Ecke frischen Tee. In dem Hinterzimmer standen ihr Bett, das Tischchen mit zwei Stühlen,ein Kocher, ein Regal mit Geschirr und mit Lebensmitteln. In einer Ecke ein Spülbecken. Hinter einer niedrigen Tür eine Toilette.
Verglichen mit dem Hinterzimmer und dem Lädchen kam mir das ‹Abstellgleis› Internat wie ein herrschaftlicher Landsitz vor.
Mama sah blaß und mager aus. Sie hatte ein abgetragenes Kleid an.
Wir tranken Tee, aßen Kekse, und ich mußte erzählen, erzählen.
Von ihr wollte ich nicht viel hören, die Schilderung ihrer Lage wollte ich ihr ersparen.
‹Wo wohnen Nina und Chodassewitsch?›
‹Ganz in der Nähe. Wir können nachher zu ihnen gehen.›
Mama sagte, ich solle meinen Koffer bei ihr lassen. Und ich solle bei ihr wohnen.
Meinen fragenden Blick beantwortete sie mit dem Satz, ich könne im Hinterzimmer in ihrem Bett schlafen, sie schlafe in ihrer Werkstatt auf der Chaiselongue.
Ich nickte, aber mir war klar, daß ich nicht lange bleiben konnte.
Wir machten uns auf den Weg zu Nina und Chodassewitsch. Sie waren tatsächlich zu Hause. Wir kamen in eine enge Zwei-Zimmer-Wohnung, die kaum möbliert war. Nina und Chodassewitsch wollten nicht glauben, daß ich der Junge war, den sie aus der Pension Crampe in Berlin kannten. Sie freuten sich wie die Kinder über meinen Besuch. Nina kochte Kaffee.
Wie lange ich bleiben werde, fragte Nina.
Nur kurz. Ich wolle möglichst bald ein Studium beginnen. Biologie, speziell Botanik, in Berlin.
Dann fragte ich nach Bunin, den ich seit Odessa nicht vergessen hatte.
‹Er wohnt in der Rue Jacques Offenbach, aber er ist nicht in Paris. Wahrscheinlich ist er nach Grasse gefahren.›
‹Ich hätte ihn gerne wiedergesehen.›
Aber ich sagte mir, daß mein Geld für eine Reise in die Provence nicht reichte. Ich brauchte es für die Rückfahrt nach Berlin.
Chodassewitsch sah noch blasser und magerer aus als in Berlin.
Nina sagte zu mir gewandt: ‹Die antibolschewistischen Emigranten stehen auf verlorenem Posten. Moskau hetzt gegen sie, und die ‚Linke‘ in Frankreich steht auf der Seite Moskaus. Hast du im Gymnasium etwas davon gehört?›
‹Nein.›
‹Leute wie Romain Rolland verbünden sich mit den Sowjets. Rolland hat sogar gegen Bunin polemisiert. Er hat an Gorki in Sorrent geschrieben und gefragt, ob Schriftsteller in der Sowjetunion unterdrückt würden. Gorki hat geantwortet, die Schriftsteller in der Sowjetunion seien glücklicher als die Schriftsteller in den westlichen Ländern.›
Ich übernachtete zweimal im Hinterzimmer von Mamas ‹Hutsalon› und reiste ab. Beim Abschied auf demBahnhof weinte Mama. Sie sei traurig darüber, daß sie mir nicht helfen könne. Ich tröstete sie: Sie möge sich keine Sorgen um mich machen. Lieber solle sie auf sich selbst achten.
In Berlin ging ich in die Pension von Frau Crampe am Viktoria-Luise-Platz. Frau Crampe erkannte mich nicht, erinnerte sich aber an Mama und ihren Kleinen. Ich wußte, daß ich nicht wieder in der Pension Crampe würde unterkommen können. Mir fehlte einfach das Geld. Frau Crampe war aber bereit, meinen Koffer unterzustellen.»
Am 28. August 2005 fuhren Kokoschkin und Hlaváček zum Botanischen Garten. Kokoschkin wollte nicht mit der S-Bahn fahren. Er sagte: «Wir nehmen die U-Bahn bis Rathaus Steglitz und fahren dann mit dem Bus bis zum Eingang Unter den Eichen.»
«Ich hatte meinen Koffer in der Pension Crampe abgestellt und fuhr vom Viktoria-Luise-Platz zum Botanischen Garten. Ich wollte eine praktische Arbeit, um Geld zu verdienen.»
«Im Botanischen Garten?»
«Was ich am besten konnte und am liebsten tat, war Gartenarbeit.»
«Im Internat?»
«Auf dem Gelände des Gymnasiums gab es einen kleinen botanischen Garten, den Professor Lehmann angelegthatte. Ein Lehr- und Versuchsgarten. Er hieß einfach der Lehmann-Garten. Professor Lehmann hieß bei den Schülern Papa Lehmann. Er war ein großer Kenner der Botanik und ein liebenswürdiger Lehrer. Ich durfte unter seiner Regie im Lehmann-Garten arbeiten. Papa Lehmann starb Neunzehnhundertachtundzwanzig und wurde nahe dem Garten beigesetzt. Die Pflege seines Grabes war für uns Ehrensache. In der Mitte des Gartens wurde zum Andenken an Professor Lehmann ein Findling aufgestellt, den die Schüler durch Spenden finanziert haben.
Professor Lehmann verdanke ich
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