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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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zögerte Karl, dann dachte er, was soll’s, und holte die Flasche aus dem Kasten. Sie war mit einem Korken verschlossen, wie in den Western, und wie die Cowboys in diesen Filmen zog Karl den Korken mit den Zähnen aus dem Flaschenhals, spuckte ihn auf den Boden und nahm einen tüchtigen Schluck. Der Rum rann seine Kehle hinunter und landete schließlich in seinem Magen, wo er mit der Wucht einer Atombombe detonierte. Nach dem dritten Schluck fühlte er sich wesentlich besser. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, sein Rücken wurde wieder gerade und eine angenehme, leicht einlullende Wärme machte sich in seinem Körper breit. Er hob den Korken auf, torkelte mit der Flasche in der Hand ins Schlafzimmer, warf einen Blick aus dem Fenster und dachte, dass es eine gute Idee wäre, ein bisschen rauszugehen, die Sonne genießen, den Kopf durchlüften.
    Er schlüpfte in seine Flipflops, die, da sie angeblich selbst auf den Catwalks von New York getragen wurden, auch für ihn gut genug waren, steckte eine Hand voll Münzen und seinen Schlüsselbund ein und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Die Flasche, die mittlerweile nur noch zur Hälfte gefüllt war, trug er locker in der linken Hand. Beim Altpapiercontainer neben der Eingangstür begegnete er Paul Blaha, dem Hausbesorger, der ihn mit einem demonstrativen Blick auf seine Uhr begrüßte, und Karl nickte ihm zu, stieß wortlos die Tür auf und trat hinaus in den Sonnenschein. Nachdem er einige Sekunden planlos auf der Straße herumgestanden war, beschloss er, ins alte AKH zu gehen, sich dort ins Gras zu legen und seine Situation gründlich zu durchdenken. Er schlurfte die Berggasse hinauf, wobei er ab und zu stehen blieb und einen kleinenSchluck Rum zu sich nahm. Das Feuer in seinem Inneren war heiß, aber erträglich.
    Bei der Währinger Straße blieb er stehen und betrachtete eine Zeit lang den Strom der Autos, der an ihm vorbeischoss wie ein bunter Fluss. Schließlich tat sich eine Lücke im Verkehr auf und Karl rannte entschlossen über die Straße, wobei er einen seiner Flipflops verlor. Am gegenüberliegenden Gehsteig blieb er stehen und überlegte, ob er es riskieren und zurück auf die Fahrbahn laufen sollte, um den Schuh zu holen, aber in diesem Moment ergoss sich ein neuer Schwall Autos auf die Straße und zermalmte die Sandale unter seinen Rädern. Achselzuckend streifte Karl den anderen Schuh ebenfalls ab und beförderte ihn mit einem Schlenker in einen verkümmerten Busch, dessen braune Blätter beim Aufprall zu Boden fielen.
    Barfuß ging er weiter. Er war sich der Blicke der Passanten bewusst. Er trug nur ein T-Shirt und eine Trainingshose, hielt eine Flasche umklammert, die wohl nur Alkohol enthalten konnte, und schien sich irgendwie außerhalb der Welt zu befinden. All das war ihm klar und es kümmerte ihn nicht. Eine grüne Wand, die an den Rändern grau war und sich auflöste, trennte ihn von der Welt.
    Beim alten AKH angekommen, wanderte er an einer der Buchhandlungen vorbei, bog links ab und fand sich inmitten von Grünflächen wieder, auf denen meist junge Leute auf Decken oder ausgebreiteten Jacken lagen, Bücher oder Skripten lasen oder schliefen. Karl fand ein schattiges Plätzchen unter einem Baum, holte den Schlüsselbund – ein Gummidelphin mit herausquellenden Augen, Geschenk von Daniel bei Karls Rückkehr – und die Münzen aus der Hosentasche und warf sie neben sich ins Gras, bevor er sich auf den Rücken legte, die Beine ausgestreckt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Die Rumflasche hatte er zwischen seine Knie geklemmt. Irgendwo in seinem Hinterkopf pochte dieser eine Gedanke, Was wirst du jetzt tun?, aber immer, wenn das Pochen zu laut wurde, setzte er sich auf und nahm einen kleinen, tröstenden Schluck, der das Pochen auf ein leichtes Dröhnen reduzierte, einDröhnen, mit dem Karl, wie es schien, schon eine ganze Weile ganz gut leben konnte.
    Irgendwann fiel er in eine Art Halbschlaf, aus dem er durch ein beharrliches Zerren an seinem T-Shirt geweckt wurde. Mit brummendem Schädel setzte er sich auf und öffnete die Augen. Vor ihm stand eine rund vierzig Jahre alte Frau mit grauen, verfilzten Haaren, dreckigen Jeans und einem ärmellosen roten Oberteil, das schwammige, zum Teil verschorfte Arme freiließ. In ihrem Mundwinkel baumelte eine schwelende Zigarette mit zwei Zentimeter

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