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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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Nachtkästchen stand der kleine Reisewecker aus durchsichtigem violettem Plastik, den er in San José für ein paar
colones
gekauft hatte und der so laut piepte, dass er imstande war, Tote aufzuwecken. Auf dem Regal neben dem Bett, eigentlich nur ein an die Wand geschraubtes Brett, lagen ein paar eselsohrige Taschenbücher auf Deutsch, Englisch und Spanisch, mit denen er sich in La Perla die einsamen Nächte vertrieben und die er aus einer sentimentalen Regung heraus mitgenommen hatte. Daneben standen drei Aktenordner mit seinen Skripten, ein paar Fachbücher über Botanik und Pflanzenphysiologie und einige Wörterbücher. Er hatte die Unterlagen aufgehoben, falls er eines Tages seine Doktorarbeit schreiben sollte, aber tief drinnen wusste er, dass dieser Tag nie kommen würde.
    Er machte ein paar Schritte, fuhr mit den Fingern über das Mobile, das von der Decke baumelte und aus buntbemalten Kolibris aus Balsaholz bestand, ging weiter, rückte den knallroten Fisch aus Ton auf dem Regal ein wenig zur Seite, stellte die drei kleinen Holzschildkröten zu einer Gruppe zusammen. Er betrachtete den Kalender an der Wand, vom letzten Jahr, und die Fotos, die daneben mit Tixo hingepickt waren. Eines zeigte ihn mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungsprojektes. Karl war der Einzige, der nicht lächelte. Auf den anderen Fotos war Rocín zu sehen, wie er unter einem kleinen Wasserfall stand und die Arme in die Höhe streckte, Rocín, der, eine Zigarette im Mund, einen Fisch ausnahm, Rocín, der seine Machete schliff. Auf einem Foto befanden sich Karl und Rocín mitten im Wasserfall – Karl hatte eine wasserdichte Wegwerfkamera verwendet – und starrten in die Linse. Beide lachten aus vollem Hals. Karl ging näher zur Wand und betrachtete das Foto genauer. Obwohl sein Herz schnellerschlug und sich ein Grinsen auf seinen Lippen breit machte, wusste er, dass dieser Moment der Vollkommenheit für immer vorbei war, und seltsamerweise störte ihn das nicht. Wenn er an die Szene von damals dachte, spürte er eine befriedigende Endgültigkeit, keine Sehnsucht.
    Er wischte sich die Augen aus und ging in den Gang, wo er auf seine gefälschten Palladium-Stiefel stieß, die mit ihrem Segeltuchschaft und der dicken Gummisohle angeblich speziell für den Aufenthalt in Regenwaldgebieten konzipiert waren. Er ging weiter in die Küche und betrachtete dort mit wehmütigem Blick ein bis zur Hälfte mit Wasser gefülltes Marmeladenglas, in dem sich eine Hand voll bunter Steine befand, die er aus einem quecksilberverseuchten Fluss gefischt hatte und die seiner armseligen Variante eines Luftbefeuchters ein wenig exotisches Flair verleihen sollten.
    Er schlenderte in den Gang, lehnte sich gegen die Wohnungstür und inspizierte die blitzende und funkelnde Wohnung. Er wartete auf etwas, ein Gefühl, Genugtuung, Befriedigung, Stolz, aber sein Inneres war hohl und leer und schwarze Sonnen verglühten in seiner Seele, und plötzlich, beim Anblick all dieser penibel arrangierten Möbel, dieser akkurat aufgereihten Gläser und Teller und Tassen und Töpfe auf dem Abtropfbrett, der in Reih und Glied stehenden Schuhe, der säuberlich übereinandergestapelten Telefonbücher auf der Kommode im Gang, brachen Wut und Frustration aus seinem hermetisch verschlossenen Inneren und in blinder Raserei fegte er Teller und Tassen, Gläser und Töpfe auf den Boden, trat gegen die Schuhe, dass sie in alle Richtungen flogen, schleuderte die Telefonbücher gegen die Wand, stemmte seine Schultern gegen die Kommode, bis sie in schrägem Winkel von der Wand wegstand, und brach schließlich keuchend, röchelnd und schluchzend in der Abstellkammer zusammen. Er kauerte am Boden und dachte an Berger und an Rocín und an das Versprechen, das Karl ihm gegeben hatte, und er starrte die Blüten, die vor seinen Augen tanzten, an, und zum ersten Mal in seinem Leben hasste er diese verdammten Orchideen.
    Schließlich rappelte er sich hoch, wischte sich mit dem T-Shirt notdürftig Rotz und Tränen aus dem Gesicht und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als er den Kasten öffnete, um ein Glas herauszuholen, fiel sein Blick auf eine dicke, bauchige Flasche aus durchsichtigem Glas mit einem leichten Gelbstich und ohne Etikett. Rocín hatte ihm den Rum zum Abschied geschenkt, für den Fall, dass
la soledad
wieder zuschlug. Kurz

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