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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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düster ihre Schatten warfen, neben Stapeln mit Bauholz, die vom anämischen Licht hoher, zweiarmiger Laternen beleuchtet wurden.
    Karl schaute hinüber auf die andere Straßenseite, zur Fabrik, und schloss für einen Moment die Augen. Noch kannst du einen Rückzieher machen, sagte er sich. Selbst wenn der freundliche Herr aus Buenos Aires dich nicht wieder zurückfährt, kannst du immer noch auf die Straßenbahn warten. Du kannst dich zuhause unter die Dusche stellen, eine Hand voll Aspirin schlucken und deinen Rausch ausschlafen. Und morgen, wenn du wieder nüchtern und …
    â€žSeñor?“
    Karl drehte den Kopf.
„Sí?“
    Er müsse weiter, sagte der Fahrer und fragte Karl, ob er aussteigen oder wieder zurückfahren wolle.
    Nach einer Sekunde sagte Karl, er werde aussteigen. Er griff zur Tür, kletterte umständlich aus dem Fond des Wagens und warf die Tür hinter sich zu.
    â€žMucha suerte!“
, rief ihm der Fahrer nach und Karl, der viel Glück wirklich gebrauchen konnte, winkte ihm zum Abschied zu und schaute dem Seat nach, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen waren.
    Er überquerte die Straße und strich sich die Haare aus der Stirn. Vor dem Tor, das die Zufahrt zur Fabrik versperrte, blieb er stehen und schaute sich um. Zwei Lkw, die, wie Karl wusste, schon am Vormittag hätten ankommen und entladen werden sollen, standen am Rande der Zufahrt, offensichtlich immer noch mit Rosenblüten beladen. Leere Lkw würden nicht über Nacht auf dem Firmengelände bleiben, denn die meisten waren nur gemietet, und kein Mensch, vor allem nicht Berger, bezahlte für etwas, das ihm nichts einbrachte. Karls Blick fiel wieder auf das Tor. Vielleicht war es verschlossen, dann konnte er ohne schlechtes Gewissen mit der Straßenbahn nach Hause fahren und morgen einen neuen Anlauf nehmen. Oder übermorgen.
    Er drückte die Klinke und nichts passierte. Er ging ein paar Meter den Gehsteig entlang und versuchte es beim schmalen Gatter, das den gekiesten Weg zum Verwaltungsgebäude versperrte. Das Gatter schwang mit einem leisen Quietschen nach innen. Karl ließ seinen Blick über die Reihen der Fenster gleiten. Das letzte ganz oben rechts war erleuchtet. Irgendwie hatte Karl schon gewusst, dass Berger so spät noch im Büro sein würde. Berger wurde von evangelischen Schuldgefühlen überwältigt, wenn er nicht mindestens fünfzehn Stunden am Tag arbeitete.
    Die Kieselsteine stachen ihn in die Fußsohlen, während er den Weg entlangging. Bei der Tür blieb er stehen, wischte sich die Steine von den Füßen und drückte die Klinke. Die Tür öffnete sich. Dann ging er zum Lift, drückte auf den Knopf, wartete, trat in die Kabine und ließ sich in den zweiten Stock bringen. Er wagte es nicht, in den Spiegel zu schauen.
    Im zweiten Stock hielt er sich links, durchquerte das Büro der Sekretärin, die um diese Zeit natürlich nicht mehr hier war, und fand sich schließlich vor Bergers Tür wieder. Kurz zögerte er, dann trank er einen letzten Schluck Rum und riss die Tür auf. Patrick Berger, der hinter seinem Schreibtisch saß und sich gerade irgendwelche Berichte anschaute, hob den Blick und sah sich Karl Michael Baumgartner gegenüber, der eine leere Flasche in der Hand hielt und nur mit einem verschwitzten T-Shirt und einer Trainingshose bekleidet war.
    â€žHola“
, sagte Baumgartner grinsend und hob die Flasche, „hier bin ich.“
    â€žDas sehe ich“, sagte Berger und schaute an Baumgartner vorbei in den Gang hinaus. Er war leer. Baumgartner war allein. Berger raffte die Papiere zusammen, zog eine Schublade heraus, legte die Papiere hinein und schob die Schublade sanft wieder zurück. „Nun“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust, „was wollen Sie?“ Berger war ohnehin schon sauer wegen der Lkw, die unten auf dem Hof standen, vollgeladen mit äußerst empfindlichen Rosenblüten, die vermutlich nicht vor morgen früh in die Halle transportiert werden würden. Die Fahrer hatten sich schlichtweg geweigert, die Paletten auszuladen, das sei nicht ihr Job, hatten sie mit frechem Grinsen gemeint. Und als ob das noch nicht gereicht hätte, tauchte jetzt, mitten in der Nacht, dieser Spinner hier auf.
    Baumgartner trat ins Büro, schaute sich um, so, als wäre er zum ersten Mal in diesem Raum, und ließ sich schwer auf das Sofa fallen.

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