Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
Vom Netzwerk:
Händen?“
    Lehner lockerte seinen Krawattenknoten und presste die Fingerspitzen aneinander. „Eine starke allergische Reaktion, aber das geht vorbei. Ich meine, theoretisch …“
    Karl, gerade mit der Gürtelschnalle beschäftigt, blickte auf. „Ja?“
    â€žNa ja“. Lehner räusperte sich, warf einen kurzen Blick auf das Foto und sagte dann: „Nichts.“
    Karl kratzte sich an den Händen und fischte das T-Shirt vom Sessel. „Sind Sie sicher?“
    Lehner nickte, ein wenig zu heftig, wie Karl fand, und vermied es, ihm in die Augen zu schauen. „Es ist harmlos und die Symptome verschwinden bald.“
    â€žGut zu wissen“, sagte Karl und streifte sich das T-Shirt über den Kopf.
    Lehner zog die Schublade erneut heraus und warf diesmal einen etwas längeren Blick hinein. Dann räusperte er sich und fragte: „Was ist eigentlich passiert?“
    Karl schlüpfte in seine Socken, streifte sich den rechten Schuh über und band ihn. Dann zog er den linken Schuh an, blickte kurz auf und musterte das Foto, das auf Lehners Schreibtisch stand. Es zeigte ein junges Mädchen im Rollstuhl. „Wie geht’s Ihrer Tochter?“, fragte er und band sich den linken Schuh.
    Lehner strich mit den Fingerspitzen über das Foto und lächelte. „Gut“, sagte er. „Die Therapie ist teuer, aber sie wirkt. Letzte Woche ist sie zehn Meter ohne fremde Hilfe gegangen.“
    Karl nickte. Er erinnerte sich an den Tratsch in der Kantine. Lehners Tochter, sie hieß Clara, hatte eine seltene Krankheit, die sie infolge einer verkrümmten Wirbelsäule an den Rollstuhl fesselte. Es gab kaum Ärzte in Wien, die sich auf die Behandlung dieser Krankheit verstanden, und die paar, die es gab, verlangten eine Menge Geld dafür. Vor ungefähr einem Monat hatte er Clara gesehen, als er am Samstag Nachmittag die Kärntner Straße entlangspaziert war und Lehner entdeckt hatte, der seine Tochter im Rollstuhl schob. Zuerst hatte er hinübergehen und mit dem Arzt ein wenig plaudern wollen, aber dann hatte er Angst gehabt, dass sich eine peinliche Situation ergeben könnte, und er hatte sich heimlich und mit schlechtem Gewissen davongeschlichen.
    Er seufzte innerlich und kratzte sich an den Fingern. Seine Hände juckten immer noch und im Mund hatte er einen seltsamen Geschmack.
    â€žSie wollen wissen, was passiert ist?“, fragte er.
    Lehner nickte und betastete sich vorsichtig auf der rechten Seite, knapp über der Hüfte.
    â€žGanz einfach“, sagte Karl, „die Zentrifuge hatte einen kleinen Defekt.“
    â€žIch meinte nicht den Unfall“, sagte Lehner.
    â€žSondern?“
    â€žIhr Haar, Ihr Kittel, alles voller Öl.“
    Karl zog die Papierbahn von der Liege und knüllte sie zu einem Ball zusammen. „Ach, Sie meinen, warum der Abzug nicht funktioniert hat?“
    â€žSo was in der Art, ja.“
    â€žNun“, Karl trat auf den Hebel des Mistkübels und versenkte den Papierball, „er ist kaputt.“
    â€žUnd wenn sich nun statt Öl etwas Giftiges in den Röhrchen befunden hätte?“, fragte Lehner besorgt.
    Karl hob das Stück Krepppapier vom Boden auf und knüllte es ebenfalls zusammen. „Tja“, sagte er, „dann hätte ich jetzt wohl die aufregendste Zeit meines Lebens vor mir.“
    Lehner erhob sich aus seinem Sessel und legte eine neue Papierbahn auf die Liege. „Wissen Sie, was ich nicht verstehe?“
    â€žWarum eine Firma, die es sich leisten kann, nicht dafür sorgt, dass die primitivsten Sicherheitsvorrichtungen funktionieren?“ Karl warf den Papierball mit der einen Hand hoch und fing ihn mit der anderen auf.
    Lehner lachte freudlos. „Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse.“ Er beugte sich über den Schreibtisch, zog die oberste Schublade heraus, entnahm ihr eine Packung Pfefferminzbonbons, steckte sich eines in den Mund, bot Karl eines an, der lehnte ab, die Bonbons wanderten zurück in die Schublade, diese wurde geschlossen. „Nein, was ich mich seit mehr als zwei Monaten frage, ist, warum Sie diesen Job überhaupt angenommen haben.“
    â€žWarum?“
    â€žJa, das ist mir nicht klar. Sie sind eindeutig überqualifiziert und die Arbeit hier gefällt Ihnen ganz offensichtlich nicht.“
    Karl wollte Lehner eben dieselbe Frage stellen, aber dann fiel sein Blick auf das Foto auf dem Schreibtisch und er

Weitere Kostenlose Bücher