Kollaps
Skandinavier ebnete der Handel genau wie für andere Seefahrer der Menschheitsgeschichte auch den Weg zu Überfällen. Nachdem die Händler aus dem Norden den Seeweg zu reichen Völkern entdeckt hatten, die Silber und Gold für Pelze bezahlten, wurde den ehrgeizigen jüngeren Brüdern dieser Händler klar, dass sie sich das gleiche Silber und Gold auch ohne Gegenleistung beschaffen konnten. Mit den Handelsschiffen konnte man auf den bekannten Seewegen auch überraschend zu den Städten an Küsten und Flüssen gelangen, selbst zu jenen, die weit landeinwärts an Flussufern lagen. Damit wurden die Skandinavier zu Wikingern, das heißt zu Räubern. Ihre Schiffe und Besatzungen waren im Vergleich zu denen in anderen europäischen Regionen so schnell, dass sie vor den langsameren Schiffen der Einheimischen flüchten konnten, und die Europäer versuchten nie einen Gegenangriff auf die Heimat der Wikinger, um dort deren Stützpunkte zu zerstören. Die heutigen Staaten Norwegen und Schweden waren damals noch nicht unter jeweils einem einzigen König vereinigt, sondern gliederten sich in die Gebiete verschiedener Häuptlinge oder Kleinkönige, die um die Beute aus Übersee konkurrierten, um damit ihre Anhänger anzulocken und zu belohnen. Häuptlinge, die in dem Konflikt mit ihren heimatlichen Konkurrenten den Kürzeren zogen, waren besonders stark motiviert, ihr Glück in anderen Ländern zu versuchen.
Die Überfälle der Wikinger begannen sehr plötzlich am 8. Juni 793, als das reiche, aber schutzlose Kloster auf Lindisfarne Island vor der Nordostküste Englands angegriffen wurde. Danach setzten sich die Attacken jedes Jahr im Sommer fort, wenn das Meer ruhiger war und sich besser zum Segeln eignete. Nach einigen Jahren machten die Wikinger sich dann nicht mehr die Mühe, im Herbst nach Hause zurückzukehren: An der Küste, auf die sie es abgesehen hatten, richteten sie Wintersiedlungen ein, sodass sie im folgenden Frühjahr sehr schnell wieder mit den Überfällen beginnen konnten. Aus diesen Anfängen entwickelte sich eine flexible Mischstrategie mit verschiedenen Methoden zur Anhäufung von Reichtum, die je nach den Kräfteverhältnissen zwischen der Wikingerflotte und dem angegriffenen Volk eingesetzt wurden. Als Stärke und Zahl der Wikinger im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung zunahmen, wandelten sich die Methoden vom friedlichen Handel über das Erpressen von Tribut gegen das Versprechen, keine Überfälle auszuüben, bis zur Plünderung und Rückzug; den Höhepunkt bildete die Eroberung und Einrichtung von Wikingerstaaten in anderen Ländern.
Die Wikinger aus den verschiedenen Teilen Skandinaviens verübten ihre Überfälle in unterschiedlichen Richtungen. Die Waränger aus dem Gebiet des heutigen Schweden fuhren nach Osten über die Ostsee und die Flüsse hinauf, die aus Russland in dieses Meer münden, setzten ihren Weg nach Süden bis zum Oberlauf der Wolga und anderer Flüsse fort, die in das Schwarze Meer und das Kaspische Meer münden, trieben Handel mit dem wohlhabenden byzantinischen Reich und gründeten das Fürstentum von Kiew, das zum Vorläufer des modernen Russland wurde. Wikinger aus dem heutigen Dänemark segelten nach Westen an die Nordwestküste Europas und die Ostküste Englands, bahnten sich ihren Weg den Rhein und die Loire aufwärts, ließen sich an der Mündung dieser Flüsse sowie in der Normandie und Bretagne nieder, gründeten im Osten Englands den Staat Danelag (engl. Danelaw) und in Frankreich das Herzogtum der Normandie, umrundeten Spanien entlang seiner Atlantikküste, gelangten an der Straße von Gibraltar ins Mittelmeer und überfielen Italien. Wikinger aus dem heutigen Norwegen fuhren nach Irland sowie an die Nord- und Westküste Großbritanniens und bauten in Dublin ein großes Handelszentrum auf. In allen diesen europäischen Regionen ließen sich die Wikinger nieder, gingen Ehen mit Einheimischen ein und wurden allmählich in die örtliche Bevölkerung aufgenommen. Dies hatte zur Folge, dass skandinavische Sprachen und charakteristische skandinavische Siedlungen außerhalb Skandinaviens schließlich verschwanden. Die schwedischen Wikinger vermischten sich mit der russischen Bevölkerung, die dänischen Wikinger mit den Bewohnern Englands, und die Wikinger, die sich in der Normandie niedergelassen hatten, gaben schließlich ihre nordische Sprache zugunsten des Französischen auf. Im Lauf dieser Assimilation wurden neben skandinavischen Genen auch skandinavische Wörter
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