Kollaps
Einwanderung nach Nordamerika, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert durch eine Kombination aus Druck und Zug ihren Höhepunkt erreichte: Bevölkerungswachstum, Hungersnot und politische Unterdrückung in Europa vertrieben die Auswanderer aus ihrer Heimat, und ein fast unbegrenztes, fruchtbares Ackerland sowie die wirtschaftlichen Möglichkeiten in den Vereinigten Staaten und Kanada zogen sie an.
Nun kann man die Frage stellen, warum die Summe von Druck- und Zugkräften nach 793 so plötzlich vom Unattraktiven zum Attraktiven wechselte, und warum der Effekt bis 1066 wieder nachließ. Die Expansion der Wikinger ist ein gutes Beispiel für einen so genannten autokatalytischen Prozess. Unter Katalyse versteht man in der Chemie die Beschleunigung einer Reaktion durch einen zugesetzten Bestandteil, beispielsweise ein Enzym. In manchen chemischen Reaktionen entsteht ein Produkt, das auch als Katalysator wirksam wird, sodass die Reaktionsgeschwindigkeit zunächst sehr gering ist und sich dann plötzlich beschleunigt, weil dieses Produkt gebildet wird und die Reaktion antreibt, wobei wiederum mehr Produkt entsteht, das die Reaktion noch weiter beschleunigt. Eine solche Kettenreaktion nennt man autokatalytisch; das Paradebeispiel ist die Explosion einer Atombombe, nachdem die Neutronen in einer kritischen Uranmenge die Atomkerne spalten, wobei neben Energie weitere Neutronen entstehen, die noch mehr Atomkerne zertrümmern.
Ganz ähnlich läuft auch die autokatalytische Expansion einer Bevölkerungsgruppe ab: Ein Volk hat anfangs gewisse Vorteile (beispielsweise einen technologischen Vorsprung), diese machen Profite oder neue Entdeckungen möglich, die ihrerseits mehr Menschen dazu anregen, nach Profiten oder Entdeckungen zu streben; die Folge sind weitere Profite und Entdeckungen, durch die wieder neue Menschen angeregt werden, bis das Volk schließlich alle Bereiche abdeckt, in die es durch diese Vorteile vordringen kann. Wenn es so weit ist, katalysiert die Expansion sich nicht mehr selbst, und sie kommt zum Stillstand. Bei den Wikingern wurde die Kettenreaktion durch zwei ganz bestimmte Ereignisse in Gang gesetzt: durch den Überfall auf das Kloster Lindisfarne im Jahr 793, der reiche Beute einbrachte und im folgenden Jahr zum Anreiz für neue Überfälle mit noch mehr Beute wurde; und die Entdeckung der unbesiedelten Faröerinseln, die sich für die Schafzucht eigneten, und die nachfolgende Entdeckung des größeren, weiter entfernten Island sowie des noch größeren und noch weiter entfernten Grönland. Wenn Wikinger nach Hause zurückkehrten und Beute mitbrachten oder von Inseln berichteten, die nur auf eine Besiedlung warteten, stachelten sie die Phantasie ihrer Landsleute an, die sich nun ebenfalls auf die Suche nach mehr Beute und mehr leeren Inseln machten. Die Wikinger sind nicht das einzige Beispiel für eine autokatalytische Expansion: Ganz ähnlich verlief die Verbreitung der Polynesier nach Osten über den Pazifik seit 1200 n. Chr. sowie die Expansion der Portugiesen und Spanier über die ganze Welt seit dem 15. Jahrhundert und insbesondere nach der »Entdeckung« der Neuen Welt durch Columbus im Jahr 1492.
Wie bei den Polynesiern und den Portugiesen/Spaniern, so verlor die Expansion auch bei den Wikingern ihren Schwung, als alle Gebiete, die sie mit ihren Schiffen erreichen konnten, bereits überfallen oder besiedelt waren. Jetzt brachten die Wikinger bei ihrer Heimkehr keine Geschichten über unbesiedelte oder leicht auszuraubende Länder mehr mit. Wie die beiden Ereignisse, die die Kettenreaktion bei den Wikingern in Gang brachten, so stehen auch zwei Ereignisse für ihr Ende. Das eine war die Schlacht von Stamford Bridge im Jahr 1066, die den Schlusspunkt einer langen Reihe von Niederlagen der Wikinger bildete und endgültig zeigte, dass weitere Überfälle nutzlos waren. Und zweitens mussten die Wikinger um das Jahr 1000 nach nur einem Jahrzehnt ihre abgelegenste Siedlung Vinland wieder aufgeben. Die beiden bis heute erhaltenen norwegischen Sagen über Vinland berichten ausdrücklich, die Kolonie sei aufgegeben worden, weil es Kämpfe mit einer dichten Bevölkerung amerikanischer Ureinwohner gab, die sehr zahlreich waren, während nur wenige Wikinger mit den Schiffen jener Zeit den Atlantik überqueren konnten, sodass ein Sieg unmöglich wurde. Als die Färöer, Island und Grönland bereits voller Wikinger waren, Vinland zu gefährlich wurde und keine weiteren unbewohnten Atlantikinseln zu entdecken
Weitere Kostenlose Bücher