Kollaps
Polarkreises sorgte der Golfstrom in den Niederungen in manchen Jahren für ein so mildes Klima, dass man im Süden sogar Gerste anbauen konnte. In den Seen und Flüssen sowie im umgebenden Meer wimmelte es von Fischen, aber auch von Seevögeln und Enten, die noch nie gejagt worden waren und deshalb keine Angst hatten. Entlang der Küste lebten ebenso arglose Robben und Walrosse.
Aber die scheinbare Ähnlichkeit Islands mit dem Südwesten Norwegens und Großbritanniens war in drei entscheidenden Aspekten trügerisch. Erstens lag Island etliche hundert Kilometer weiter nördlich als die wichtigen landschaftlichen Gebiete im Südwesten Norwegens. Das bedeutete ein kühleres Klima und eine kürzere Wachstumssaison, was die Landwirtschaft schwieriger machte. Als das Klima im späten Mittelalter noch kälter wurde, gaben die Siedler den Getreideanbau schließlich auf und züchteten ausschließlich Tiere. Zweitens vergiftete die Asche, die bei den Vulkanausbrüchen in regelmäßigen Abständen ausgestoßen wurde, das Viehfutter. In der Geschichte Islands hatten solche Vulkanausbrüche mehrfach zur Folge, dass Tiere und Menschen hungern mussten; bei der schlimmsten derartigen Katastrophe, der Eruption des Laki im Jahr 1783, verhungerte ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung.
Der größten Täuschung unterlagen die Siedler jedoch im Hinblick auf die Unterschiede zwischen dem empfindlichen, unbekannten Boden Islands und dem widerstandsfähigen Boden in Norwegen und Großbritannien, den sie gut kannten. Diese Unterschiede konnten die Siedler unter anderem deshalb nicht richtig einschätzen, weil manche davon sehr geringfügig sind und bis heute von professionellen Bodenkundlern nicht vollständig aufgeklärt wurden. Andererseits lag es aber auch daran, dass manche Unterschiede auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind und sich erst nach Jahren bemerkbar machen: In Island bildet sich der Boden langsamer und erodiert viel schneller als in Norwegen oder Großbritannien. Als die Siedler den fruchtbaren und an manchen Stellen sehr dicken Boden Islands sahen, waren sie ebenso begeistert wie ein Mensch unserer Zeit, der ein Bankkonto mit einem großen Habensaldo erbt: Wir würden automatisch annehmen, dass wir dafür die üblichen Zinssätze erhalten, sodass das Konto jedes Jahr einen beträchtlichen Gewinn abwirft. Leider war es in Island aber anders: Boden und dichte Wälder wirkten auf den ersten Blick zwar eindrucksvoll - entsprechend dem hohen Guthaben auf dem Bankkonto -, dieser Zustand hatte sich jedoch (wie bei einem sehr niedrigen Zinssatz) sehr langsam seit dem Ende der letzten Eiszeit eingestellt. Irgendwann bemerkten die Siedler, dass sie nicht von dem ökologischen Jahreszins Islands lebten, sondern das Kapital von Boden und Vegetation verbrauchten, das sich in 10 000 Jahren angesammelt hatte und jetzt innerhalb weniger Jahrzehnte oder sogar innerhalb eines Jahres zur Neige ging. Unabsichtlich nutzten sie Boden und Pflanzenwelt nicht nachhaltig - Nachhaltigkeit bedeutet, dass eine Ressource (wie ein Waldgebiet oder Fischereirevier bei guter Bewirtschaftung) unendlich lange erhalten bleiben kann, weil sie nicht schneller ausgebeutet wird, als es ihrem eigenen Regenerationstempo entspricht. Stattdessen beuteten die Siedler den Boden und die Vegetation auf die gleiche Weise aus, wie es im Bergbau mit Öl- und Mineralvorkommen geschieht, jenen Ressourcen, die sich nur sehr langsam erneuern und abgebaut werden, bis nichts mehr übrig ist.
Warum ist der Boden in Island so empfindlich, und warum bildet er sich so langsam neu? Ein wichtiger Grund liegt in seinem Ursprung. Norwegen, der Norden Großbritanniens und Grönland hatten in jüngerer Zeit keine aktiven Vulkane und waren in der Eiszeit vollkommen vergletschert. Später entstand dann der fruchtbare Boden, weil Meeressedimente in die Höhe stiegen, oder weil die Gletscher das darunter liegende Gestein zermalmten und die Bruchstücke weiter transportierten, bis sie nach dem Abschmelzen der Gletscher als Sedimente abgelagert wurden. In Island jedoch wurden durch die häufigen Vulkanausbrüche immer wieder feine Aschewolken in die Luft geschleudert. Die Asche enthält leichte Teilchen, die von starkem Wind über große Teile des Landes verteilt werden, und auf diese Weise bildet sich eine Ascheschicht (Tephra), die unter Umständen so leicht wie Talkumpuder ist. Auf der fruchtbaren Asche siedelt sich schließlich Vegetation an, die den Untergrund bedeckt und vor Erosion
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