Kollaps
Erfahrungen sind Isländer daran gewöhnt, dass jede Veränderung alles eher schlechter als besser macht. In den Jahren des Experimentierens während der Frühgeschichte Islands gelang den Siedlern die Entwicklung eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems, das mehr oder weniger funktionierte. Zugegeben, die meisten Menschen blieben in diesem System arm, und von Zeit zu Zeit verhungerten sie auch, aber zumindest blieb die Gesellschaft bestehen. Dagegen hatten andere Experimente, mit denen man es im Lauf der Geschichte versucht hatte, in einer Katastrophe geendet. Die Spuren solcher Katastrophen konnten sie überall um sich herum sehen: Mondlandschaften, aufgegebene Bauernhöfe und erodierte Gebiete auf den Anwesen, die überlebt hatten. Aus allen diesen Erfahrungen zogen die Isländer eine Lehre: In diesem Land kann man sich den Luxus des Experimentierens nicht erlauben. Wir leben in einem empfindlichen Land; wir wissen, dass unsere Lebensweise zumindest einigen von uns das Überleben ermöglicht; bleibt uns mit Veränderungen vom Leib.
Die politische Geschichte Islands seit 870 lässt sich schnell zusammenfassen. Mehrere Jahrhunderte lang war das Land selbständig, aber in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts führten die Kämpfe zwischen Häuptlingen aus den fünf führenden Familien dazu, dass viele Menschen ums Leben kamen und Bauernhöfe niederbrannten. Im Jahr 1262 baten die Bewohner Islands den norwegischen König, sie zu regieren; dahinter stand die Überlegung, dass ein weit entfernter König für sie eine geringere Gefahr darstellte, ihnen mehr Freiheit lassen würde und ihr Land vermutlich nicht in ein derartiges Chaos stürzen konnte wie die Häuptlinge vor Ort. Durch Eheschließungen zwischen den skandinavischen Königshäusern wurden die Throne von Dänemark, Schweden und Norwegen im Jahr 1397 unter einem König vereinigt. Dieser interessierte sich vor allem für Dänemark, seine reichste Provinz, schenkte aber dem ärmeren Norwegen und Island kaum Aufmerksamkeit. Im Jahr 1874 erhielt Island eine gewisse Selbständigkeit, 1904 wurde die Selbstverwaltung eingeführt, und die vollständige Unabhängigkeit von Dänemark folgte 1944.
Seit dem späten Mittelalter war der wachsende Handel mit Stockfisch (getrocknetem Kabeljau) eine wichtige Triebkraft der isländischen Wirtschaft. Die Fische wurden in isländischen Gewässern gefangen und in die wachsenden Städte des europäischen Festlandes exportiert, deren Bevölkerung einen immer größeren Bedarf an Lebensmitteln hatte. Da es in Island selbst keine großen Bäume für den Bau guter Schiffe gab, wurden die Fische von Schiffen aus verschiedenen anderen Staaten gefangen und exportiert, insbesondere von solchen aus Norwegen, England und Deutschland, zu denen später noch Franzosen und Niederländer hinzukamen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts baute Island eine eigene Flotte auf, und die industrielle Fischerei nahm explosionsartig zu. Im Jahr 1950 machten Meeresprodukte mehr als 90 Prozent aller isländischen Exporte aus, sodass sie den zuvor dominierenden landwirtschaftlichen Sektor völlig in den Schatten stellten. Schon 1923 war die Stadtbevölkerung Islands den Landbewohnern zahlenmäßig überlegen. Heute ist Island das am stärksten urbanisierte skandinavische Land: Die Hälfte der Bevölkerung lebt allein in der Hauptstadt Reykjavik. Die Bevölkerungswanderung von den ländlichen in städtische Gebiete setzt sich bis heute fort: Isländische Bauern geben ihre Höfe auf oder wandeln sie zu Ferienhäusern um und ziehen in die Städte, wo es Arbeitsplätze, Coca-Cola und globale Kultur gibt.
Durch die reichlich vorhandenen Fische, geothermische Energie, Stromerzeugung mit der Wasserkraft der vielen Flüsse und die fehlende Notwendigkeit, Holz zum Bau von Schiffen zusammenzukratzen (weil sie heute aus Metall hergestellt werden), ist das frühere ärmste Land Europas heute, was das Pro-Kopf-Einkommen angeht, zu einem der reichsten Staaten der Welt geworden - eine Erfolgsgeschichte, die ein Gegengewicht zu den Berichten über Gesellschaftszusammenbrüche in den Kapiteln 2 bis 5 darstellt.
Der isländische Literatur-Nobelpreisträger Halldor Laxness legte der Heldin seines Romans Salka Valka einen unsterblichen Satz in den Mund, den nur ein Isländer aussprechen kann: »Wenn alles gesagt und getan ist, ist das, was übrig bleibt, der Salzfisch.« Aber die Fischbestände werfen heute ebenso wie Wälder und Boden schwierige
Weitere Kostenlose Bücher