Kollaps
Sauerstoffs ist mit 99,8 Prozent der Gesamtmenge das Isotop Sauerstoff-16 (das heißt Sauerstoff mit dem Atomgewicht 16), aber es gibt auch einen kleinen Anteil (0,2 Prozent) Sauerstoff-18 und eine noch kleinere Menge Sauerstoff-17. Alle drei Isotope sind nicht radioaktiv, sondern stabil, aber man kann sie mit einem als Massenspektrometer bezeichneten Instrument unterscheiden. Je wärmer es ist, wenn der Schnee entsteht, desto höher ist der Anteil an Sauerstoff-18 in seinen Wassermolekülen. Deshalb enthält der sommerliche Schnee aus jedem Jahr einen höheren Prozentsatz an diesem Isotop als Schnee, der im Winter gefallen ist. Und aus dem gleichen Grund ist Sauerstoff-18 im Schnee aus einem bestimmten Monat eines warmen Jahres stärker vertreten als in jenem aus dem gleichen Monat eines kalten Jahres. Wenn man also die Eiskappe Grönlands anbohrt (was entsprechend spezialisierte Wissenschaftler mittlerweile bis in eine Tiefe von ungefähr drei Kilometern getan haben) und den Sauerstoff-18-Gehalt in Abhängigkeit von der Tiefe misst, so stellt man fest, dass er wegen der regelmäßigen jahreszeitlichen Temperaturschwankungen vom Sommer eines Jahres über den Winter zum nächsten Sommer auf und ab geht. Ebenso kann man nachweisen, dass der Sauerstoff-18-Gehalt im Sommer beziehungsweise im Winter verschiedener Jahre unterschiedlich ist, weil die Temperatur von Jahr zu Jahr unberechenbar schwankt. Die Eisbohrkerne aus Grönland liefern den Archäologen also ganz ähnliche Informationen wie die Jahresringe aus dem Gebiet der Anasazi: Wir können daraus die Sommer- und Wintertemperaturen der einzelnen Jahre ablesen, und zusätzlich sagt die Dicke der Eisschicht zwischen zwei aufeinander folgenden Jahren etwas über die Niederschlagsmenge in dem betreffenden Zeitraum aus.
Darüber hinaus kann man einen weiteren Aspekt des Wetters aus den Eisbohrkernen ableiten, nicht aber aus den Jahresringen der Bäume: die Windverhältnisse. Stürmische Winde verwehen die Salzgischt aus dem Ozean rund um Grönland unter Umständen weit ins Landesinnere über die Eiskappe und lassen sie dort einschließlich der Natriumionen aus dem Meerwasser als Schnee fallen. Auch Staub aus der Atmosphäre, der weit entfernt in trockenen Gebieten der Kontinente entstanden ist und große Mengen von Calciumionen enthält, gelangt mit dem Wind auf die Eiskappe. Beide Ionen fehlen in Schnee, der sich aus reinem Wasser gebildet hat. Findet man sie in einer Schicht der Eiskappe in hoher Konzentration, kann das bedeuten, dass man es mit einem stürmischen Jahr zu tun hat.
Kurz gesagt, können wir das frühere Klima Grönlands aus isländischen Aufzeichnungen, Pollenuntersuchungen und Eisbohrkernen rekonstruieren, und die Bohrkerne ermöglichen es sogar, die Wetterverhältnisse einzelner Jahre nachzuzeichnen. Was haben wir auf diese Weise bereits in Erfahrung gebracht?
Erwartungsgemäß hat sich herausgestellt, dass das Klima vor rund 14 000 Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit, wärmer wurde; die Fjorde Grönlands waren nun nicht mehr »eiskalt«, sondern nur noch »kühl«, und an ihren Ufern entwickelte sich ein niedriger Wald. Aber das Klima blieb während dieser 14 000 Jahre nicht langweilig und immer gleich: In manchen Phasen wurde es kälter, dann kehrten mildere Verhältnisse wieder. Diese Klimaschwankungen waren entscheidend dafür, dass amerikanische Ureinwohner die Insel bereits vor den Normannen besiedeln konnten. In der Arktis kommen nur wenige Tierarten - vor allem Rentiere, Robben, Wale und Fische - als Nahrung infrage, aber diese wenigen Arten sind häufig in großer Zahl vorhanden. Wenn eine solche Tierart jedoch ausstirbt oder an einen anderen Ort zieht, können die Jäger nicht wie bei der großen Artenvielfalt in niederen Breiten auf Alternativen zurückgreifen. Deshalb ist die Geschichte der Arktis einschließlich Grönlands eine Geschichte von Menschen, die kamen, viele Jahrhunderte lang große Gebiete besiedelten und dann einen Niedergang erlebten, verschwanden oder ihre Lebensweise ändern mussten, weil die Klimaveränderungen auch Veränderungen bei den Beutetieren mit sich brachten.
Dass Klimaveränderungen für die einheimischen Jäger solche Folgen haben, konnte man in Grönland im 20. Jahrhundert unmittelbar beobachten. Als das Meerwasser sich zu Beginn des Jahrhunderts erwärmte, verschwanden die Robben im Süden Grönlands fast völlig. Später wurde es erneut kühler, und man konnte die Robben wieder besser jagen. Als
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