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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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geschlachteter Tiere in Grönland im Gegensatz zu anderen Ländern der Wikinger fast immer aufgebrochen, weil man noch den letzten Rest Knochenmark verwendet hatte. An archäologischen Stätten der grönländischen Inuit, die als geübte Jäger wesentlich mehr Wild erlegten als die Normannen, findet man zahlreiche Fliegenlarven, die sich von verfaultem Knochenmark und Fett ernähren; an den Stätten der Wikinger dagegen war für diese Fliegen kaum etwas zu holen.
    Um eine Kuh über einen durchschnittlichen grönländischen Winter zu bringen, waren mehrere Tonnen Heu erforderlich; ein Schaf war mit viel weniger zufrieden. Im Spätsommer bestand die Hauptbeschäftigung der meisten Wikinger in Grönland deshalb darin, Gras zu mähen, zu trocknen und als Heu zu lagern. Welche Mengen dabei zusammenkamen, war von großer Bedeutung, denn sie bestimmten darüber, wie viele Tiere man während des nachfolgenden Winters füttern konnte; dies hing aber auch von der Länge des Winters ab, die nicht genau abzusehen war. Je nach der verfügbaren Futtermenge und der mutmaßlichen Länge des bevorstehenden Winters mussten die Normannen also in jedem September eine schwierige Entscheidung treffen: Wie viele ihrer kostbaren Tiere sollten sie schlachten? Töteten sie zu viele Tiere, war im Mai noch Heu übrig, und sie hatten nur eine kleine Herde; dann ärgerten sie sich unter Umständen, weil sie nicht das Risiko auf sich genommen hatten, mehr Tiere durchzufüttern. Wurden im September aber zu wenige Tiere getötet, ging ihnen das Heu vielleicht schon vor dem Mai aus, und sie liefen Gefahr, dass die ganze Herde hungerte.
    Zur Heuproduktion dienten dreierlei Felder. Am produktivsten waren jene, die in der Nähe des Haupthauses lagen und durch einen Zaun vor dem Vieh geschützt waren; hier wurde das Gras mit Mist gedüngt, und sie dienten ausschließlich zur Heuproduktion. Auf dem landwirtschaftlichen Anwesen der Kathedrale von Gardar und den Anwesen einiger weiterer normannischer Bauernhofruinen kann man noch heute die Überreste von Bewässerungssystemen sehen: Um die Produktivität weiter zu steigern, leitete man das Wasser aus Gebirgsbächen mit einem System von Dämmen und Kanälen auf die Felder. Die zweite Zone der Heuproduktion, die so genannten Außenfelder, waren weiter vom Haupthaus entfernt und befanden sich außerhalb des eingezäunten Gebietes. Und schließlich übernahmen die Wikinger in Grönland ein als saeters (»Hütten«) bezeichnetes System, das auch in Norwegen und Island gebräuchlich war: Man errichtete Bauwerke in abgelegenen Gebieten des Hochlandes, die sich im Sommer für die Heuproduktion und als Weide für die Tiere eigneten, im Winter aber so kalt waren, dass man das Vieh dort nicht lassen konnte. Die größten saeters waren eigentlich kleine Bauernhöfe mit Wohnhäusern für die Arbeiter, die während des Sommers für die Tiere sorgten und Heu ernteten, im Winter aber zu dem eigentlichen Hof zurückkehrten. Die Schneeschmelze und das Wachstum des Grases begannen jedes Jahr zunächst in geringerer Höhe, und dann folgten die Höhenlagen, aber frisches Gras ist besonders nährstoffreich und enthält weniger schwer verdauliche Ballaststoffe. Die Hütten waren also eine raffinierte Methode: Mit ihrer Hilfe lösten die normannischen Bauern das Problem, dass die Ressourcen in Grönland so begrenzt und auf einzelne Flecken beschränkt sind. Sie konnten die nur vorübergehend nützlichen Stellen im Gebirge ausnutzen und wanderten mit ihren Tieren allmählich bergauf, um sich den Vorteil des frischen Grases zu sichern, das mit fortschreitendem Sommer in immer größeren Höhen heranwuchs.
    Wie bereits erwähnt, hatte Christian Keller mir bereits vor unserer gemeinsamen Reise nach Grönland erklärt, das Leben bestehe in Grönland darin, »die besten Stellen zu finden«. Jetzt war mir klar, was er damit gemeint hatte: Selbst an den beiden Fjorden, die als einzige Gebiete in Grönland gute Voraussetzungen für Weideland boten, waren die wenigen guten Stellen weit verstreut. Wenn ich an Grönlands Fjorden auf und ab ging oder fuhr, bekam ich selbst als naiver Stadtbewohner allmählich einen immer besseren Blick für die Kriterien, nach denen die Normannen erkannten, welche Orte sich für die Anlage von Bauernhöfen eigneten. Die Siedler, die damals aus Island und Norwegen kamen, hatten mir gegenüber den großen Vorteil, dass sie bereits erfahrene Bauern waren, aber dafür hatte ich den Vorteil, die Sache rückblickend

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