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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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zur Herstellung von Lederkleidung, Schuhen und Gürteln gebraucht. Wie Island, so exportierte auch Grönland Wollkleidung, die wegen ihrer Wasser abstoßenden Eigenschaften geschätzt war. Aber als kostbarste grönländische Exportwaren werden in norwegischen Aufzeichnungen fünf Produkte von arktischen Tieren erwähnt, die im größten Teil Europas selten waren oder völlig fehlten: Elfenbein aus den Stoßzähnen von Wahlrossen, Walrossfelle (die man schätzte, weil sie die stärksten Schiffstaue lieferten), lebende Eisbären oder ihre Felle als spektakuläre Statussymbole, die Stoßzähne von Narwalen (einer kleinen Walart), die man in Europa damals für die Hörner von Einhörnern hielt, und lebende Gerfalken (die größte Falkenart der Welt). Nachdem Moslems die Kontrolle über den Mittelmeerraum übernommen hatten und der Nachschub an Elefantenelfenbein ins christliche Europa praktisch zum Erliegen gekommen war, blieben Walrossstoßzähne das einzige Elfenbein, das für Schnitzereien noch zur Verfügung stand. Welchen Wert man den Gerfalken aus Grönland beimaß, wird an einem Beispiel deutlich: Zwölf solcher Vögel reichten 1396 aus, um den Sohn des Herzogs von Burgund freizukaufen, nachdem dieser von den Sarazenen gefangen genommen worden war.
    Walrosse und Eisbären kamen praktisch ausschließlich in geographischen Breiten weit nördlich der beiden Wikingersiedlungen vor. Das Gebiet, das als Nordrseta (nördliches Jagdrevier) bezeichnet wurde, begann mehrere hundert Kilometer von der Westlichen Siedlung entfernt und erstreckte sich an der Westküste Grönlands nach Norden. Deshalb schickten die Grönländer jeden Sommer kleine Gruppen von Jägern in offenen Booten mit sechs Paar Rudern und Segeln auf die Reise. Diese konnten pro Tag etwa 30 Kilometer zurücklegen und bis zu eineinhalb Tonnen Fracht mitnehmen. Die Jäger machten sich im Juni auf den Weg, nachdem die Jagd auf Sattelrobben weitgehend vorüber war. Von der Westlichen Siedlung brauchten sie zwei und von der Östlichen vier Wochen, um die Nordrseta zu erreichen, und Ende August kehrten sie wieder zurück. Natürlich konnten sie in ihren kleinen Booten nicht Hunderte von erlegten Wahlrossen und Eisbären mitnehmen, die jeweils eine halbe bis eine Tonne wiegen. Stattdessen wurden die Tiere an Ort und Stelle zerlegt, und nur die Walrosskiefer mit den Stoßzähnen sowie die Bärenfelle mit den Pranken (sowie hin und wieder ein lebender, gefangener Bär) wurden nach Hause gebracht, wo man während des langen Winters nach Belieben die Stoßzähne entnehmen und die Felle reinigen konnte. Außerdem brachten sie das Baculum der Walrossmännchen mit, einen stabförmigen, etwa 30 Zentimeter langen Knochen, der bei diesen Tieren den Kern des Penis bildet und sich mit seiner Größe und Form (aber, so hat man den Verdacht, auch wegen seines Unterhaltungswertes) gut als Axtgriff oder Haken eignet.
    Die Jagd in der Nordrseta war in vielerlei Hinsicht gefährlich und aufwendig. Zunächst einmal muss es ein großes Risiko gewesen sein, Walrosse und Eisbären ohne Feuerwaffen zu jagen. Man braucht sich nur vorzustellen, wie Menschen mit Lanze, Speer, Pfeil und Bogen oder Knüppeln darangehen, ein riesiges, wütendes Walross oder einen Bären zu töten, bevor dieser den Jäger umbringt. Oder stellen wir uns vor, wir müssten mehrere Wochen in einem kleinen Ruderboot mit einem lebenden, gefesselten Eisbären oder seinen Jungen verbringen. Schon ohne einen lebenden Bären als Reisegefährten war die Schiffsfahrt entlang der kalten, stürmischen Westküste Grönlands für die Jäger mit der Gefahr verbunden, Schiffbruch zu erleiden und ums Leben zu kommen oder mehrere Wochen festzusitzen. Neben solchen Gefahren war die Reise mit einem gewaltigen Aufwand für Boote, Arbeitskraft und Arbeitszeit verbunden, drei Ressourcen, die sämtlich knapp waren. Da es in Grönland so wenig Holz gab, besaßen nur die wenigsten Bewohner ein Boot, und wenn man diese kostbaren Verkehrsmittel zur Walrossjagd verwendete, standen sie für andere Zwecke nicht zur Verfügung, beispielsweise für Reisen nach Labrador zur Beschaffung von Bauholz. Die Jagd fand im Sommer statt, wenn die Männer auch für die Heuernte gebraucht wurden, damit sie das Vieh im Winter füttern konnten. Andererseits erhielten die Grönländer als materiellen Gegenwert für die Walrossstoßzähne und Bärenfelle aus Europa vorwiegend Luxusgüter für Kirchen und Häuptlinge. Aus heutiger Sicht können wir uns des

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