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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Firth die Insel 1928/29 besuchte, zählte er 1278 Einwohner. Von 1929 bis 1954 nahm die Bevölkerung pro Jahr um 1,4 Prozent zu, eine bescheidene Steigerungsrate, die in den Generationen nach der Erstbesiedelung Tikopias vor rund 3000 Jahren sicher größer war. Aber selbst wenn man annimmt, dass die Einwohnerzahl auch zu Beginn nur um 1,4 Prozent im Jahr wuchs und dass die Erstbesiedelung durch ein Kanu mit 25 Personen erfolgte, hätte die Bevölkerungszahl der 4,7 Quadratkilometer großen Insel nach 1000 Jahren auf absurde 25 Millionen Menschen und bis 1929 auf 25 Millionen Billionen ansteigen müssen. So etwas ist natürlich unmöglich: Die Bevölkerung kann nicht ständig mit der genannten Geschwindigkeit gewachsen sein, sonst wäre die neuzeitliche Zahl von 1278 Menschen bereits 283 Jahre nach Ankunft der ersten Menschen erreicht gewesen. Wie wurde die Einwohnerzahl von Tikopia nach 283 Jahren konstant gehalten?
    Als Firth 1929 auf der Insel war, lernte er sechs Methoden zur Bevölkerungskontrolle kennen, die noch in Gebrauch waren, und eine siebte hatte man früher praktiziert. Auch heute erklären die Bewohner von Tikopia ausdrücklich, dass sie Empfängnisverhütung und andere Maßnahmen ergreifen, damit die Insel nicht übervölkert wird und damit alle Kinder der Familie von ihrem Grundbesitz leben können. Die Häuptlinge von Tikopia vollziehen beispielsweise jedes Jahr ein Ritual, in dem sie das Ideal eines Bevölkerungs-Nullwachstums predigen. Auf Tikopia halten Eltern es für unvertretbar, selbst weiterhin Kinder in die Welt zu setzen, wenn ihr ältester Sohn das heiratsfähige Alter erreicht hat, und niemand will mehr als eine bestimmte Zahl von Kindern haben, die unterschiedlich mit vier Kindern, ein Junge und ein Mädchen oder ein Junge und zwei Mädchen angegeben wird.
    Die einfachste der sieben traditionellen Methoden, mit denen die Bevölkerung auf Tikopia reguliert wurde, war die Empfängnisverhütung durch Coitus interruptus. Eine Zweite war die Abtreibung: Dazu drückte man einer hochschwangeren Frau heftig auf den Bauch, oder man legte heiße Steine darauf. Eine weitere Methode war der Kindesmord: Babys wurden lebendig begraben, erstickt oder auf das Gesicht gelegt. Die jüngeren Söhne ärmerer Familien lebten enthaltsam, und ein großer Teil der überzähligen heiratsfähigen Frauen ging keine polygamen Ehen ein, sondern blieb ebenfalls ohne Partner. (»Enthaltsamkeit« bedeutet auf Tikopia, dass man keine Kinder bekommt; Sex mit Coitus interruptus sowie nötigenfalls Abtreibung oder Kindesmord sind dabei nicht ausgeschlossen.) Eine weitere Methode war der Selbstmord: Man kennt aus der Zeit zwischen 1929 und 1952 sieben Fälle (sechs Männer und eine Frau), in denen er durch Erhängen verübt wurde, und zwölf Fälle, bei denen die Betreffenden auf das Meer hinausschwammen (ausschließlich Frauen). Viel verbreiteter als dieser direkte Selbstmord war der Antritt einer gefährlichen Seereise, was einer Selbsttötung gleichkommt: Solche Unternehmungen kosteten zwischen 1929 und 1952 insgesamt 81 Männer und drei Frauen das Leben und waren die Ursache für ein Drittel aller Todesfälle bei unverheirateten jungen Männern. Ob eine Seereise einen Selbstmord oder nur Unvorsichtigkeit darstellte, ist sicher von Fall zu Fall unterschiedlich zu bewerten, aber die düsteren Aussichten, die während einer Hungersnot für die jüngeren Söhne armer Familien auf einer übervölkerten Insel bestanden, spielten dabei sicher eine Rolle. Firth erfuhr beispielsweise 1929, ein Mann aus Tikopia namens Pa Nukumara, der jüngere Bruder eines damals noch lebenden Häuptlings, sei während einer schweren Dürre und Hungersnot mit zwei seiner Söhne auf das Meer hinausgefahren und habe dabei ausdrücklich die Absicht geäußert, lieber schnell zu sterben als an Land langsam zu verhungern.
    Die siebte Methode der Bevölkerungssteuerung wurde bei Firth’ Besuch nicht mehr praktiziert, er erfuhr davon aber durch mündliche Überlieferung. Nach den Berichten über die Zahl der seither verstrichenen Generationen verwandelte sich eine frühere große Salzwasserbucht auf Tikopia irgendwann im 17. oder frühen 18. Jahrhundert in den heutigen großen Brackwassersee, weil der Eingang von einer Sandbank verschlossen wurde. Dies führte dazu, dass die großen Muschelbänke in der Bucht abstarben und die Fischbestände zurückgingen; die Folge war eine Hungersnot bei der Sippe Nga Ariki, die zu jener Zeit den betreffenden Teil

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