Kollaps
Tikopias bewohnte. Daraufhin griffen die Hungernden die Sippe Nga Ravenga an, rotteten sie aus und sicherten sich damit selbst einen größeren Teil des Landes und der Küste. Eine oder zwei Generationen später attackierten die Nga Ariki auch die verbliebene Großfamilie, die Nga Faea, die aber nicht an Land die Ermordung abwartete, sondern mit Kanus auf das Meer flüchtete und damit praktisch Selbstmord beging. Diese mündlichen Überlieferungen werden durch archäologische Belege bestätigt.
Die meisten dieser sieben Methoden, mit denen die Bevölkerung von Tikopia konstant gehalten wurde, sind unter dem europäischen Einfluss im Lauf des 20. Jahrhunderts verschwunden oder befinden sich im Rückgang. Die britische Kolonialregierung der Salomonen verbot Seereisen und Kriegsführung, und die christlichen Missionare predigten gegen Abtreibung, Kindestötung und Selbstmord. Dies hatte zur Folge, dass die Bevölkerung Tikopias zwischen 1929 und 1952 von 1278 auf 1753 Menschen anwuchs, aber dann zerstörten zwei heftige Wirbelstürme innerhalb von 13 Monaten die Hälfte aller Nutzpflanzen auf der Insel und verursachten eine allgemeine Hungersnot. Daraufhin schickte die britische Kolonialregierung Lebensmittel, und das langfristige Problem versuchte sie zu lösen, indem sie den Bewohnern gestattete und sie sogar aufforderte, die Überbevölkerung durch Umsiedlung auf weniger stark besiedelte Salomoneninseln zu vermindern. Heute begrenzen die Häuptlinge von Tikopia die Zahl der Menschen, die auf der Insel leben dürfen, auf 1115; dies entspricht ungefähr der Bevölkerungszahl, die traditionell durch Kindestötung, Selbstmord und andere heute nicht mehr hinnehmbare Methoden aufrechterhalten wurde.
Wie und wann entstand auf Tikopia die bemerkenswerte, nachhaltige Wirtschaft? Wie wir aus archäologischen Ausgrabungen von Patrick Kirch und Douglas Yen wissen, wurde sie nicht auf einmal erfunden, sondern sie entwickelte sich im Lauf von fast 3000 Jahren. Die Insel wurde erstmals um 900 v. Chr. von Lapita-Menschen besiedelt, den Vorfahren der heutigen Polynesier (siehe Kapitel 2). Diese ersten Siedler schädigten die Umwelt auf der Insel stark. Holzkohlereste an archäologischen Fundstätten zeigen, dass sie die Wälder durch Abbrennen beseitigten. Sie taten sich an den Brutkolonien von Seevögeln, Landvögeln und Fledermäusen gütlich, verzehrten aber auch Fische, Muscheln und Meeresschildkröten. Nach tausend Jahren waren die Bestände von fünf Vögelarten (Abbott-Tölpel, Audubon-Sturmtaucher, Bindenralle, Gemeines Großfußhuhn und Rußseeschwalbe) auf Tikopia ausgerottet, später kam noch der Rotfußtölpel hinzu. Wie man an Ausgrabungen von Abfallhaufen außerdem feststellen kann, verschwanden auch die Fledermäuse in diesem ersten Jahrtausend praktisch völlig, die Zahl der Fisch- und Vogelknochen nahm um das Dreifache zu, Muscheln gingen um den Faktor 10 zurück, und auch die maximale Größe von Riesenmuscheln und Turbanschnecken sank (vermutlich weil die Menschen bevorzugt die größten Exemplare einsammelten).
Um 100 v. Chr. als die ursprünglichen Nahrungsquellen verschwunden oder erschöpft waren, trat allmählich ein wirtschaftlicher Wandel ein. Im Lauf der nächsten tausend Jahre sammelte sich keine weitere Holzkohle mehr an, und an den archäologischen Fundstätten tauchen die Überreste der einheimischen Mandeln (Canarium harveyi) auf, ein Hinweis, dass die Inselbewohner die Brandrodung aufgaben und stattdessen Plantagen mit Nussbäumen unterhielten. Um den drastischen Rückgang von Vögeln und Meerestieren auszugleichen, wechselten die Menschen zu einer intensiven Schweinehaltung, die nun fast die Hälfte der gesamten Nahrungsproteine lieferte. Eine abrupte Veränderung von Wirtschaft und Werkzeugen um 1200 n. Chr. kennzeichnet die Ankunft der Polynesier aus dem Osten, wo sich im Bereich der Fiji-, Samoa- und Tongainseln unter den Nachkommen der Lapita-Wanderung, durch die auch Tikopia anfangs besiedelt worden war, deutlich andere kulturelle Merkmale herausgebildet hatten. Mit diesen Polynesiern kam die Methode, Brotfrüchte in Gruben vergären zu lassen und aufzubewahren, auf die Insel.
Eine folgenschwere Entscheidung wurde um das Jahr 1600 ganz bewusst getroffen und ist sowohl in der mündlichen Überlieferung erhalten geblieben als auch archäologisch belegt: Auf der Insel wurden sämtliche Schweine getötet, und an ihre Stelle traten als Proteinlieferanten größere Mengen von Fischen,
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