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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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das ausschließlich von Hutu bewohnt ist, wurde von den belgischen Wirtschaftswissenschaftlern Catherine Andre und Jean-Philippe Platteau im Einzelnen untersucht. Andre, Platteaus Studentin, lebte bei zwei Besuchen 1988 und 1993 insgesamt 16 Monate in der Region, und in dieser Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des Völkermordes, verschlechterte sich dort die Situation. Sie befragte Angehörige der meisten Haushalte in dem Gebiet. Bei jeder Befragung, die sie während der beiden Jahre durchführte, vergewisserte sie sich über die Zahl der Menschen in dem jeweiligen Haushalt, die Landfläche, die er besaß, und das Einkommen, das die Menschen mit Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft erzielten. Außerdem führte sie Buch über Verkäufe und Eigentumsübertragungen von Land, und über Meinungsverschiedenheiten, die einer Vermittlung bedurften. Nach dem Völkermord des Jahres 1994 machte sie Überlebende ausfindig und versuchte festzustellen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten bestimmte Hutu andere Angehörige ihrer Volksgruppe getötet hatten. Anschließend werteten Andre und Platteau die riesigen Datenmengen aus und versuchten, darin einen Sinn zu finden.
    Kanama hat sehr fruchtbaren Vulkanboden, und deshalb ist die Bevölkerungsdichte dort selbst nach den Maßstäben des dicht bevölkerten Ruanda besonders hoch: 1988 waren es 672 Menschen je Quadratkilometer, und bis 1993 war die Dichte auf 788 Menschen je Quadratkilometer angestiegen. (Das sind sogar höhere Werte als in Bangladesch, der am dichtesten bevölkerten Landwirtschaftsnation der Erde.) Ein Spiegelbild der hohen Bevölkerungsdichte war die geringe Größe der landwirtschaftlichen Betriebe: Ein durchschnittliches Anwesen besaß 1988 noch 3602 Quadratmeter, 1993 waren es nur noch 2914 Quadratmeter. Jeder Hof gliederte sich in (durchschnittlich) zehn getrennte Parzellen, sodass die Bauern absurd kleine Landflächen von 360 Quadratmetern im Jahr 1988 und 291 Quadratmetern im Jahr 1993 bewirtschafteten.
    Da alle Landflächen in der Gemeinde bereits besetzt waren, hatten junge Leute es außerordentlich schwer zu heiraten, die Eltern zu verlassen, einen Hof zu übernehmen und einen eigenen Haushalt zu gründen. Sie schoben die Eheschließung zunehmend hinaus und lebten weiterhin zu Hause bei den Eltern. In der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen stieg beispielsweise der Anteil junger Frauen, die noch zu Hause wohnten, zwischen 1988 und 1993 von 39 auf 67 Prozent an, und bei den jungen Männern wuchs dieser Anteil von 71 auf 100 Prozent: 1993 lebte kein einziger unverheirateter Mann zwischen 20 und 25 Jahren unabhängig von seinen Eltern. Dies trug offensichtlich in den Familien zu tödlichen Spannungen bei, die 1994 zum Ausbruch kamen - ich werde in Kürze genauer darauf eingehen. Da immer mehr junge Leute zu Hause blieben, stieg die durchschnittliche Zahl der Menschen in einem bäuerlichen Haushalt in dem genannten Zeitraum von 4,9 auf 5,3: die Landknappheit war also noch stärker, als es der Rückgang der Betriebsgröße von 3602 auf 2914 Quadratmeter erkennen lässt. Dividiert man die zurückgehende Betriebsgröße durch die steigende Personenzahl im Haushalt, so stellt man fest, dass 1988 jeder Mensch von rund 800 Quadratmetern lebte, 1993 aber nur noch von rund 580 Quadratmetern.
    Wie nicht anders zu erwarten, erwies es sich deshalb für die meisten Menschen in Kanama als schwierig, sich von einer so geringen Landfläche noch zu ernähren. Selbst wenn man die geringere Kalorienaufnahme zugrunde legt, die in Ruanda als ausreichend gilt, konnte der durchschnittliche Haushalt nur noch 77 Prozent seines Kalorienbedarfs aus eigener Kraft befriedigen. Die übrige Nahrung musste mit Einkommen, das außerhalb des Betriebes erzielt wurde, zugekauft werden - Einkommen beispielsweise aus Zimmermannsarbeiten, der Herstellung von Ziegeln, der Holzverarbeitung und Handelsgeschäften. Angehörige von zwei Dritteln aller Haushalte gingen solchen Tätigkeiten nach. Der Anteil der Bevölkerung, der weniger als 1600 Kalorien pro Tag (der offiziellen Hungerschwelle) zu sich nahm, lag 1982 bei neun Prozent, stieg bis 1990 auf 40 Prozent und danach auf einen nicht genau bekannten, noch höheren Wert an.
    Alle diese Zahlen, die ich hier für Kanama genannt habe, sind Durchschnittswerte, und dahinter verbirgt sich eine ungleiche Verteilung. Manche Personen besaßen größere Höfe als andere, und dieses Ungleichgewicht nahm von 1988 bis 1993 zu. Definieren wir hier einmal

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