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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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anfachten. Die Organisation Human Rights Watch fasst es in ihrem Buch Leave None to Teil the Story: Genocide in Rwanda so zusammen: »Dieser Völkermord war kein unkontrollierter Wutausbruch eines Volkes, das von ›altem Stammeshass‹ besessen war ... Er erwuchs aus der gezielten Entscheidung einer modernen Oberschicht, Hass und Angst zu schüren, um selbst an der Macht zu bleiben. Diese kleine, privilegierte Gruppe spielte zuerst die Mehrheit gegen die Minderheit aus, um einer wachsenden politischen Opposition in Ruanda zu begegnen. Als sie dann mit dem Erfolg der RPF auf dem Schlachtfeld und am Verhandlungstisch konfrontiert wurde, gingen die wenigen Machthaber von der Strategie der ethnischen Teilung zum Völkermord über. Sie glaubten, der Ausrottungsfeldzug werde die Solidarität unter den Hutu unter ihrer Führung wiederherstellen und ihnen helfen, den Krieg zu gewinnen . « Es gibt überwältigende Belege, dass diese Lesart stimmt, und sie ist zu einem großen Teil die Erklärung für die Tragödie, die sich in Ruanda abspielte.
    Manchen Indizien zufolge spielten aber auch andere Überlegungen eine Rolle. Es gab im Land noch eine dritte ethnische Gruppe: Die Twa oder Pygmäen, etwa ein Prozent der Bevölkerung, die auf der sozialen Leiter und im Machtgefüge ganz unten standen und für niemanden eine Bedrohung darstellten - aber auch sie kamen bei den Massenmorden des Jahres 1994 größtenteils ums Leben. In dem Gewaltausbruch ging es nicht nur um den Konflikt zwischen Hutu und Tutsi, sondern in Wirklichkeit verliefen zwischen den Fraktionen kompliziertere Grenzen: Drei rivalisierende Gruppen bestanden vorwiegend oder ausschließlich aus Hutu, und eine davon löste wahrscheinlich den Gewaltausbruch aus, weil sie den Hutu-Präsidenten, der einer anderen Gruppe angehörte, ermordete; und die Invasionsarmee der RPF wurde zwar von Tutsi geführt, ihr gehörten aber ebenfalls Hutu an. Die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi ist bei weitem nicht so eindeutig, wie sie häufig dargestellt wird. Beide Gruppen sprechen dieselbe Sprache, sie besuchten die gleichen Kirchen, Schulen und Lokale, lebten in denselben Dörfern unter denselben Häuptlingen zusammen und arbeiteten zusammen in den gleichen Büros. Hutu und Tutsi heirateten untereinander, und bevor die Belgier die Personalausweise einführten, wechselten sie manchmal ihre ethnische Zugehörigkeit. Im Durchschnitt sehen die Vertreter beider Gruppen zwar unterschiedlich aus, aber viele einzelne Personen lassen sich aufgrund ihres Äußeren unmöglich der einen oder anderen zuordnen. Ungefähr ein Viertel aller Bewohner Ruandas haben unter ihren Urgroßeltern sowohl Hutu als auch Tutsi- (Es ist sogar fraglich, ob die traditionelle Ansicht, wonach Hutu und Tutsi unterschiedlicher Herkunft sind, überhaupt stimmt oder ob die beiden Gruppen aus einer gemeinsamen Bevölkerung hervorgegangen sind, die sich in Ruanda und Burundi nur wirtschaftlich und gesellschaftlich aufspaltete.) Diese Verflechtungen führten während der Morde des Jahres 1994 zu zigtausenden von menschlichen Tragödien, weil Hutu versuchten, ihre Tutsi-Ehepartner, -Verwandte, -Freunde, -Kollegen und -Vorgesetzten zu schützen, oder weil sie die potenziellen Mörder ihrer Angehörigen mit Geld von ihrem Vorhaben abbringen wollten. In der Gesellschaft Ruandas waren die beiden Gruppen so eng verzahnt, dass Ärzte am Ende ihre Patienten umbrachten und umgekehrt, Lehrer töteten ihre Schüler und umgekehrt, Nachbarn und Arbeitskollegen töteten sich gegenseitig. Manche Hutu töteten einige Tutsi, schützten aber andere Tutsi. Man kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen: Wie kam es, dass so viele Ruander sich von extremistischen Führern so leicht manipulieren ließen und sich dann gegenseitig so barbarisch ermordeten?
    Geht man davon aus, dass hinter dem Völkermord nicht mehr steckte als ethnischer Hass zwischen Hutu und Tutsi, der von Politikern angefacht wurde, sind insbesondere die Vorgänge im Nordwesten des Landes besonders rätselhaft. Dort gab es eine Gemeinde, in der praktisch ausschließlich Hutu lebten; es gab nur einen einzigen Tutsi, aber auch dort fanden Massenmorde statt - die Hutu brachten sich gegenseitig um. Die Gesamtzahl der Todesopfer mag mit »mindestens fünf Prozent der Bevölkerung« zwar etwas niedriger gelegen haben als im gesamten Land mit 11 Prozent, aber es bleibt dennoch zu erklären, warum eine Gemeinschaft von Hutu auch ohne ethnische Motive mindestens fünf Prozent

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