Kollaps
die Konfliktvermittler oder Haushaltsvorstände. Nach Aussage beider Informantengruppen ging es in den meisten schwer wiegenden Konflikten um den Grundbesitz; entweder stritt man sich unmittelbar über das Land (43 Prozent der Fälle), oder es handelte sich um einen Konflikt unter Eheleuten, Familienangehörigen oder Bekannten, der letztlich ebenfalls auf einen Streit um Land zurückging (Beispiele werde ich in den beiden nächsten Absätzen beschreiben): in anderen Fällen drehte sich der Streit um den Diebstahl durch »Hungerdiebe«, wie sie in der Region genannt wurden, sehr arme Menschen, die fast kein Land besaßen, keinen Nebenverdienst hatten und mangels anderer Möglichkeiten vom Stehlen lebten (sieben Prozent aller Konflikte und zehn Prozent der Haushalte).
Solche Streitigkeiten um den Landbesitz höhlten den traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhalt in Ruanda aus. Traditionell wurde erwartet, dass reiche Landbesitzer ihren ärmeren Verwandten helfen. Dieses System zerfiel jetzt, denn selbst Grundbesitzer, die mehr besaßen als andere, waren noch arm und konnten nichts für noch ärmere Angehörige erübrigen. Besonders stark litten die schwächsten Gruppen der Gesellschaft unter dem mangelnden Schutz: getrennt lebende oder geschiedene Frauen, Witwen, Waisen und jüngere Halbgeschwister. Wenn Ex-Ehemänner nicht mehr für ihre geschiedenen Frauen sorgten, konnten diese früher in die elterliche Familie zurückkehren, aber jetzt widersetzten sich die Brüder einem solchen Schritt, weil sie und ihre Kinder dadurch noch ärmer geworden wären. Unter Umständen versuchten die Frauen dann, nur mit ihren Töchtern in die Herkunftsfamilie zurückzukehren, denn die Vererbung verlief in Ruanda traditionell über die Söhne, sodass die Brüder einer Frau deren Töchter nicht als Konkurrenz für ihre eigenen Kinder betrachteten. Die Söhne wurden dann beim Vater (dem geschiedenen Ehemann) zurückgelassen, aber dessen Verwandte verweigerte ihnen unter Umständen ebenfalls den Grundbesitz, insbesondere wenn der Vater nicht mehr lebte und sie nicht schützen konnte. Auch eine Witwe wurde nun weder von der Familie ihres Ehemannes (ihren Schwägern) unterstützt, noch von ihren eigenen Brüdern, die ihre Kinder wiederum im Hinblick auf den Grundbesitz als Konkurrenz zum eigenen Nachwuchs sahen. Für Waisenkinder sorgten traditionell die Großeltern väterlicherseits; starben diese, versuchten nunmehr die Onkel (die Brüder des verstorbenen Vaters), die Waisen vom Erbe auszuschließen oder zu vertreiben. Kinder aus polygamen oder Ehen, die geschieden worden waren, wobei der Mann später wieder heiratete und mit der zweiten Frau ebenfalls Kinder hatte, wurden ebenfalls von ihren Halbbrüdern enterbt oder vertrieben.
Die schmerzlichsten und gesellschaftlich schädlichsten Konflikte um Land waren solche zwischen verfeindeten Vätern und Söhnen. Nach dem Tod eines Vaters ging traditionell sein gesamter Grundbesitz an den ältesten Sohn über; von diesem wurde erwartet, dass er das Land für die ganze Familie verwaltete und seinen jüngeren Brüdern einen so großen Anteil zur Verfügung stellte, dass sie sich davon ernähren konnten. Als das Land immer knapper wurde, gingen die Väter allmählich dazu über, den Besitz zwischen allen Söhnen aufzuteilen, um das Konfliktpotenzial in der Familie für die Zeit nach ihrem Tod zu vermindern. Aber die einzelnen Söhne stellten, was die Aufteilung des Landes anging, unterschiedliche Forderungen an den Vater. Die jüngeren Brüder ärgerten sich, wenn die Älteren, die zuerst heirateten, einen unverhältnismäßig großen Anteil erhielten, besonders wenn der Vater später, wenn die jüngeren Söhne heirateten, einen Teil des Landes verkaufen musste. Jüngere Söhne verlangten deshalb eine genau gleichmäßige Verteilung; sie erhoben Einwände, wenn ihr Vater dem ältesten Sohn zur Hochzeit ein Stück Land schenkte. Von dem jüngsten Sohn wurde traditionell erwartet, dass er im höheren Alter für die Eltern sorgte, und er verlangte nun häufig einen zusätzlichen Anteil am Land, um diese traditionelle Aufgabe erfüllen zu können. Brüder waren misstrauisch gegenüber Schwestern und jüngeren Brüdern, die vom Vater Land geschenkt bekamen, und versuchten sie zu vertreiben - sie hatten den Verdacht, das Geschenk könne eine Gegenleistung sein, weil die Schwester oder der jüngere Bruder versprochen hatte, den Vater im hohen Alter zu versorgen. Söhne klagten darüber, der Vater
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