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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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behalte zu viel Land für sich, um sich auf seine alten Tage ernähren zu können, und verlangten schon jetzt größere Flächen für sich selbst. Die Väter wiederum hatten verständlicherweise Angst davor, sie könnten im Alter zu wenig Grundbesitz haben, und widersetzten sich den Forderungen der Söhne. Alle diese Konflikte endeten vor den Vermittlern oder den Gerichten, Väter verklagten Söhne und umgekehrt, Schwestern verklagten ihre Brüder, Neffen ihre Onkel, und so weiter. Durch die Streitigkeiten gingen Familienbande zu Bruch, enge Verwandte wurden zu Konkurrenten und erbitterten Feinden.
    Solche chronischen, eskalierenden Konflikte bildeten den Hintergrund für die Morde des Jahres 1994. Schon davor hatte die Zahl von Gewaltverbrechen und Diebstählen in Ruanda stark zugenommen. Die Täter waren vor allem hungrige junge Leute ohne Landbesitz und ohne anderweitige Einkünfte. Vergleicht man die Kriminalitätsrate bei Personen zwischen 21 und 25 Jahren in verschiedenen Teilen Ruandas, so stellt sich heraus, dass die regionalen Unterschiede statistisch mit der Bevölkerungsdichte und der pro Kopf verfügbaren Kalorienzahl zusammenhängen: Hohe Bevölkerungsdichte und Hunger sind mit mehr Verbrechen verbunden.
    Nach den Gewalttaten des Jahres 1994 bemühte sich Andre, das Schicksal der Einwohner von Kanama nachzuzeichnen. Nach den Berichten, die sie erhielt, waren 5,4 Prozent von ihnen durch den Krieg ums Leben gekommen. In Wirklichkeit muss die Zahl der Opfer aber höher liegen, denn über das Schicksal mancher Bewohner konnte sie nichts in Erfahrung bringen. Deshalb ist nicht bekannt, ob der Anteil der Opfer an den Durchschnittswert von elf Prozent für ganz Ruanda heranreicht. Klar ist aber, dass der Anteil der Opfer in einem Gebiet, wo die Bevölkerung nahezu ausschließlich aus Hutu bestand, immer noch mindestens halb so hoch war wie in den Regionen, wo Hutu nicht nur andere Hutu, sondern auch Tutsi umbrachten.
    Die Opfer, über die in Kanama etwas zu erfahren war, lassen sich mit einer Ausnahme in sechs Kategorien einteilen. Zuerst wurde die einzige Tutsi in dem Ort, eine Witwe, ermordet. Ob die Tat viel mit ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu tun hatte, ist nicht geklärt, denn es gab auch viele andere Motive, sie zu töten: Sie hatte viel Land geerbt, war häufig in Streitigkeiten um Grundbesitz verwickelt, war die Witwe eines Hutu, der mehrere Ehefrauen gehabt hatte (sodass die anderen Frauen und ihre Angehörigen das Opfer als Konkurrentin betrachteten), und ihr verstorbener Mann war bereits zu Lebzeiten durch seine Halbbrüder von seinem Grundbesitz vertrieben worden.
    Bei den Opfern in zwei weiteren Kategorien handelte es sich um Hutu, die große Ländereien besaßen. Sie waren in ihrer Mehrzahl Männer von über 50 Jahren und damit im besten Alter für Streitigkeiten mit den Söhnen. Die Übrigen waren jünger, hatten aber auch bereits Neid auf sich gezogen, weil sie mit Nebentätigkeiten verhältnismäßig viel Geld verdient und damit Land gekauft hatten.
    Die nächste Kategorie der Opfer waren die »Querulanten«, die dafür bekannt waren, dass sie sich an allen möglichen Konflikten um Land und andere Dinge beteiligten.
    Eine weitere Gruppe bestand aus jungen Männern und Kindern, vor allem solchen aus armen Familien, die sich aus Verzweiflung von den verfeindeten Milizen anwerben ließen und einander dann umbrachten. Insbesondere in dieser Kategorie wird die Zahl der Opfer höchstwahrscheinlich unterschätzt, denn Andre hätte sich selbst in Gefahr gebracht, wenn sie zu genau nachgefragt hätte, wer zu welcher Miliz gehört hatte.
    Die größte Zahl der Opfer schließlich waren unterernährte oder besonders arme Menschen, die kein oder nur sehr wenig Land besaßen und auch über kein anderes Einkommen verfügten. Sie starben offensichtlich durch den Hunger, weil sie zu schwach waren oder weil sie kein Geld hatten, um Lebensmittel zu kaufen oder die Bestechungsgelder zu zahlen, die ihnen an den Straßensperren das Überleben sicherten.
    Andre und Platteau stellen fest: »Die Ereignisse von 1994 boten eine einzigartige Gelegenheit, auch unter HutuDorfbewohnern alte Rechnungen zu begleichen und den Grundbesitz neu zu verteilen ... Selbst heute hört man von Ruandern nicht selten die Ansicht, ein Krieg sei notwendig, um einen Bevölkerungsüberschuss zu beseitigen und die Zahl der Menschen in Einklang mit den zur Verfügung stehenden Landflächen zu bringen.«
    Dieser Bericht über das, was die

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