Kollaps
Hutu dazu auf, die »Küchenschaben« zu töten, wie sie die Tutsi nannten, drängten Tutsi, sich an angeblich sicheren Plätzen zu sammeln, sodass man sie leichter umbringen konnte, und machten Jagd auf Flüchtlinge. Als erste internationale Proteste gegen die Morde aufflammten, änderten Regierung und Rundfunk den Ton ihrer Propaganda: Sie riefen nun nicht mehr dazu auf, die »Küchenschaben« zu töten, sondern drängten die Ruander, sie sollten Selbstverteidigung praktizieren und sich vor den gemeinsamen Feinden des Landes schützen. Gemäßigte Hutu-Beamte, die Morde verhindern wollten, wurden eingeschüchtert, übergangen, abgelöst oder umgebracht. Die größten Massaker mit jeweils Hunderten oder Tausenden von Opfern ereigneten sich, wenn Tutsi Zuflucht in Kirchen, Schulen, Krankenhäusern, Amtsgebäuden und anderen angeblich sicheren Orten suchten: Dort wurden sie umzingelt und dann mit Macheten erschlagen oder verbrannt. Hutu-Zivilisten waren an dem Völkermord in großem Umfang beteiligt, aber ob bis zu einem Drittel der Hutu-Bevölkerung oder ein geringerer Anteil an dem Blutbad mitwirkte, ist umstritten. Nachdem die Armeeangehörigen ihre Opfer anfangs vor allem erschossen hatten, wurden die späteren Morde mit einfacheren Mitteln ausgeführt, insbesondere mit Macheten oder nagelbesetzten Keulen. Es kam zu einer Fülle von Gräueltaten - den Opfern wurden Arme und Beine abgeschlagen, den Frauen schnitt man die Brüste ab, Kinder wurden in Brunnen geworfen, und es gab unzählige Vergewaltigungen.
Die Morde wurden zwar von der extremistischen Hutu-Regierung organisiert und im Wesentlichen von Hutu-Zivilisten ausgeführt, aber auch Institutionen und Außenstehende, von denen man ein anderes Verhalten erwartet hätte, spielten eine wichtige Rolle, weil sie nichts dagegen unternahmen. Insbesondere zahlreiche Würdenträger der katholischen Kirche von Ruanda unterließen es entweder, Tutsi zu schützen, oder sie trieben sie sogar gezielt zusammen, um sie an die Mörder zu übergeben. Die Vereinten Nationen, die bereits eine kleine Friedenstruppe in Ruanda stationiert hatten, befahlen dieser den Rückzug. Die französische Regierung schickte ebenfalls Friedenskräfte, die sich auf die Seite der mörderischen Hutu-Regierung stellten und die Invasion der Aufständischen bekämpfte. Und die Regierung der Vereinigten Staaten lehnte eine Intervention ab. Zur Erklärung dieser Verhaltensweisen beriefen sich die Vereinten Nationen, die französische Regierung und die Regierung der Vereinigten Staaten auf »Chaos«, »eine verwirrende Situation« und »Stammeskonflikte«, als sei dies nur eine der vielen Stammesfehden, die in Afrika als normal gelten und hingenommen werden; dabei ignorierte man alle Belege, dass die Morde von der Regierung Ruandas sehr sorgfältig koordiniert wurden.
Nach sechs Wochen waren schätzungsweise 800 000 Tutsi ums Leben gekommen, drei Viertel der damals noch in Ruanda lebenden Vertreter dieser Gruppe oder elf Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Schon einen Tag nach Beginn des Völkermordes begann eine von Tutsi geführte Rebellenarmee, die sich als Ruandische Patriotische Front (RPF) bezeichnete, mit militärischen Operationen gegen die Regierung. Erst als die RPF die verschiedenen Teile des Landes besetzte, endete dort der Völkermord, und am 18. Juli 1994 erklärte sie ihren vollständigen Sieg. Nach allgemeiner Ansicht war die RPF-Armee diszipliniert, und sie spannte auch keine Zivilisten als Mörder ein. Aber auch sie beging zur Vergeltung weitere Morde, die allerdings einen viel geringeren Umfang hatten als der vorangegangene Völkermord (die geschätzte Zahl der Opfer liegt hier »nur« bei 25 000 bis 60 000). Die RPF installierte eine neue Regierung, setzte auf nationale Versöhnung und Einheit, und drängte die Bewohner des Landes, sich nicht als Hutu oder Tutsi zu sehen, sondern als Ruander. Etwa 135 000 Personen wurden am Ende wegen des Verdachts auf Völkermord inhaftiert, aber verurteilt oder überführt wurden nur wenige. Nach dem Sieg der RPF flüchteten rund zwei Millionen Menschen (die Mehrzahl Hutu) in Nachbarländer (insbesondere in den Kongo und nach Tansania), während etwa 750 000 frühere Flüchtlinge (vor allem Tutsi) aus den Nachbarländern nach Ruanda zurückkehrten.
Glaubt man den üblichen Berichten, war der Völkermord in Ruanda und Burundi die Folge eines bereits früher vorhandenen ethnischen Hasses, den zynische Politiker aus eigenem Interesse
Weitere Kostenlose Bücher