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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Bewohner Ruandas selbst über den Völkermord sagen, überraschte mich. Nach meiner Erfahrung hatten Menschen nur in Ausnahmefällen einen solchen direkten Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und Morden hergestellt. Ich selbst bin daran gewöhnt, Bevölkerungsdruck, von Menschen verursachte Umweltschäden und Dürre als letzte Ursachen zu sehen, die bei den Menschen zu chronischer Verzweiflung führen und das Pulver im Pulverfass darstellen. Man braucht aber auch einen unmittelbaren Anlass, einen Funken, der das Fass zur Explosion bringt. In den meisten Regionen Ruandas handelte es sich bei diesem Funken um ethnischen Hass, angestachelt von zynischen Politikern, die selbst an der Macht bleiben wollten. (Ich sage »in den meisten Regionen«, weil die zahlreichen Morde von Hutu an Hutu in Kanama beweisen, dass ein ähnliches Ergebnis auch dann eintrat, wenn alle zur gleichen ethnischen Gruppe gehörten.) Gerard Prunier, ein französischer Ostafrikaexperte, formuliert es so: »Die Entscheidung zum Mord wurde natürlich von Politikern aus politischen Gründen getroffen. Aber dass sie von ganz gewöhnlichen Bauern in ihrem ingo [Familienanwesen] so gründlich umgesetzt wurde, lag zumindest teilweise daran, dass auf zu wenig Land zu viele Menschen lebten und dass für die Überlebenden mehr übrig bleiben würde, wenn ihre Zahl sich verminderte.«
    Die Verbindung, die Prunier ebenso wie Andre und Platteau zwischen Bevölkerungsdruck und Völkermord herstellen, blieb nicht unwidersprochen. Die Skepsis war insbesondere eine Reaktion auf übermäßig vereinfachte Behauptungen, die von Kritikern mit einer gewissen Berechtigung als »ökologischer Determinismus« gebrandmarkt wurden. Nur zehn Tage nach Beginn des Völkermordes stellte beispielsweise ein amerikanischer Zeitungsartikel mit folgenden Worten einen Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsdichte von Ruanda und dem Massenmord her: »Vorgänge wie in Ruanda sind in der Welt, in der wir leben, ein integraler, ja eingebauter Bestandteil.« Diese fatalistische, übermäßig vereinfachte Schlussfolgerung provoziert natürlich nicht nur negative Reaktionen auf die Ansicht ihrer Verfasser, sondern auch auf die differenziertere Sichtweise, die Prunier, Andre, Platteau und ich vertreten. Das hat drei Gründe.
    Erstens kann jede »Erklärung« der Gründe, warum sich ein Völkermord ereignet hat, fälschlich als »Entschuldigung« interpretiert werden. In Wirklichkeit aber spielt es keine Rolle, ob wir zu einer übermäßig vereinfachten Erklärung mit nur einer Ursache gelangen oder ob wir den Völkermord übermäßig kompliziert mit 73 Faktoren erklären: Das alles ändert beim Völkermord in Ruanda wie bei anderen schrecklichen Taten nichts an der persönlichen Verantwortung der Täter. Dieses Missverständnis kommt regelmäßig auf, wenn man über die Ursachen des Bösen diskutiert: Die Menschen lehnen jede Erklärung ab, weil sie Erklärung mit Ausrede verwechseln. In Wirklichkeit ist es aber wichtig, dass wir die Ursachen des Völkermordes in Ruanda verstehen - und zwar nicht, weil wir die Mörder entlasten wollen, sondern weil wir mit Hilfe unserer Erkenntnisse die Gefahr verringern möchten, dass solche Dinge in Ruanda oder anderswo noch einmal geschehen. Es gibt auch Menschen, die ihr ganzes Leben oder ihre ganze Berufslaufbahn der Aufgabe gewidmet haben, die Ursachen des Nazi-Holocaust zu verstehen oder zu begreifen, was im Bewusstsein von Serienmördern und Vergewaltigern vorgeht. Diese Aufgabe haben sie sich nicht gestellt, um Nazischergen, Serienmörder oder Vergewaltiger von ihrer Verantwortung freizusprechen, sondern weil sie wissen wollen, wie es zu diesen entsetzlichen Vorgängen kam, und wie wir am besten verhindern können, dass sie sich wiederholen.
    Zweitens ist es durchaus berechtigt, wenn man die simple Ansicht zurückweist, Bevölkerungsdruck in Ruanda sei die einzige Ursache des Völkermordes gewesen. In Wirklichkeit trugen auch andere Faktoren dazu bei; jene, die mir wichtig erscheinen, habe ich in diesem Kapitel beschrieben, und Ruanda-Fachleute haben zu dem Thema ganze Bücher und Artikel geschrieben, die ich am Ende des Buches im Literaturverzeichnis zitiere. Um es noch einmal zu wiederholen: Unabhängig von der Rangfolge ihrer Bedeutung gehörten zu diesen Faktoren die Vergangenheit des Landes mit der Vorherrschaft der Tutsi, der Massenmord der Tutsi an Hutu in Burundi und in geringerem Umfang auch in Ruanda, die Invasionen der Tutsi in

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