Kollaps
Ruanda, die wirtschaftliche Krise des Landes, die durch Dürre und globale Faktoren (insbesondere sinkende Kaffeepreise und Sparmaßnahmen der Weltbank) verstärkt wurden, Hunderttausende von verzweifelten jungen Männern aus Ruanda, die als Flüchtlinge in Lagern lebten und von den Milizen leicht anzuwerben waren, und die Konkurrenz zwischen den politischen Gruppen in Ruanda, die sich zu nichts zu schade waren, um ihre Macht zu sichern. Zu diesen anderen Faktoren kam der Bevölkerungsdruck dann hinzu.
Und schließlich sollte man die Tatsache, dass der Bevölkerungsdruck neben anderen Faktoren zum Völkermord in Ruanda beitrug, nicht falsch interpretieren: Sie bedeutet nicht, dass Bevölkerungsdruck auch anderswo auf der Welt automatisch zum Völkermord führt. Wer also einwendet, es bestehe kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen malthusianischem Bevölkerungsdruck und Massenmord, dem erwidere ich: »Natürlich nicht!« Dass ein Land auch ohne solche Folgen überbevölkert sein kann, zeigt sich am Beispiel Bangladesch (das seit dem Gemetzel von 1971 von größeren Mordwellen weitgehend verschont blieb), aber auch in den Niederlanden und dem Vielvölkerstaat Belgien - alle drei Länder sind dichter bevölkert als Ruanda. Umgekehrt können neben der Überbevölkerung auch andere Gründe zum Völkermord führen; Beispiele sind Hitlers Bestrebungen, im Zweiten Weltkrieg die Juden und Zigeuner auszurotten, oder der Völkermord in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Kambodscha, das nur ein Sechstel der Bevölkerungsdichte von Ruanda hat.
Ich ziehe vielmehr den Schluss, dass der Bevölkerungsdruck nur eine von mehreren wichtigen Ursachen für den Völkermord von Ruanda war, dass Malthus’ schlimmstes Szenario manchmal Wirklichkeit wird, und dass Ruanda ein deprimierendes Beispiel für dieses Szenario ist. Schwer wiegende Probleme mit Überbevölkerung, Umweltschäden und Klimawandel können nicht unbegrenzt bestehen bleiben: Früher oder später lösen sie sich auf, und wenn es uns nicht gelingt, sie durch unser eigenes Handeln zu beseitigen, geschieht es nach der Art von Ruanda oder auf einem anderen Weg, den wir nicht gewollt haben. Im Fall Ruanda können wir die unerfreuliche Lösung mit Gesichtern und Motiven in Verbindung bringen; ähnliche Motive steckten nach meiner Vermutung auch hinter den in Kapitel 2 beschriebenen Zusammenbrüchen auf der Osterinsel, auf Mangareva und bei den Maya, auch wenn wir ihnen in diesem Fall keine Gesichter zuordnen können. Und ähnliche Motive könnten auch in Zukunft wieder zum Zuge kommen, wenn es in anderen Ländern wie in Ruanda nicht gelingt, die grundlegenden Probleme zu lösen. Möglicherweise werden sie sogar in Ruanda selbst wieder wirksam, wo die Bevölkerung immer noch mit drei Prozent im Jahr wächst, wo Frauen ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 15 Jahren zur Welt bringen, wo die Durchschnittsfamilie zwischen fünf und acht Kinder hat und wo man als Besucher das Gefühl bekommt, man sei von einem Meer aus Kindern umgeben.
»Malthusianische Krise« ist ein unpersönlicher, abstrakter Begriff. Er beschwört nicht das entsetzliche, grausame, verstörend detaillierte Bild dessen herauf, was Millionen Ruander getan oder erlitten haben. Die letzten Worte möchte ich einem Beobachter und einem Überlebenden überlassen. Der Beobachter ist noch einmal Gerard Prunier:
»Alle diese Menschen, die ermordet werden sollten, hatten Land und manchmal auch Kühe. Irgendjemand musste dieses Land und die Kühe übernehmen, nachdem sie tot waren. In einem armen, zunehmend überbevölkerten Land war das kein geringer Anreiz.«
Der Überlebende, ein Tutsi, ist Lehrer und wurde von Prunier befragt. Er blieb nur deshalb am Leben, weil er zufällig nicht zu Hause war, als die Mörder kamen und sowohl seine Frau als auch vier seiner fünf Kinder umbrachten: »Die Menschen, deren Kinder barfuß zur Schule gehen mussten, brachten jene um, die ihren Kindern Schuhe kaufen konnten.«
KAPITEL 11
Eine Insel, zwei Völker, zwei Historien: Die Dominikanische Republik und Haiti
Unterschiede ■ Geschichtliches ■ Ursachen der Auseinanderentwicklung ■ Balaguer ■ Die Umwelt in der Dominikanischen Republik heute ■ Die Zukunft
Wer sich für die Probleme der modernen Welt interessiert, steht vor einer schwierigen Aufgabe, wenn er die 195 Kilometer lange Grenze zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti verstehen will, den beiden Staaten, die sich die große Karibikinsel Hispaniola
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