Kollaps
Verstecke dienten, sondern langfristig bewohnt wurden.
In dieser Endphase der Gesellschaft auf der Osterinsel hatte nicht nur die alte politische Ideologie versagt, sondern auch die alte Religion, die nun zusammen mit der Macht der Häuptlinge über den Haufen geworfen wurde. Der mündlichen Überlieferung zufolge wurden um 1620 die letzten ahu und moai errichtet, unter ihnen auch Paro, die größte Statue von allen. Die Plantagen im Hochland, die unter der Führung der herrschenden Klasse die Ernährung der Arbeiter beim Statuenbau sichergestellt hatten, wurden zwischen 1600 und 1680 nach und nach aufgegeben. In der zunehmenden Größe der Statuen spiegelt sich möglicherweise nicht nur das Bestreben rivalisierender Häuptlinge wider, einander zu übertrumpfen, sondern auch ein immer dringenderer Appell an die Vorfahren, der durch die wachsende Umweltkrise notwendig wurde. Um 1680, zur Zeit des Militärputsches, gingen die konkurrierenden Sippen dazu über, nicht mehr immer größere Statuen zu errichten, sondern die Statuen der anderen umzuwerfen; man kippte sie nach vorn, damit sie auf einer Steinplatte zerbrachen.
Der Ablauf war auf der Osterinsel also der Gleiche wie bei den Anasazi und Maya, von denen in den Kapiteln 4 und 5 die Rede sein wird: Nachdem die Gesellschaft im Hinblick auf Bevölkerungszahl, Bau von Denkmälern und Eingriffe in die Umwelt ihren Höhepunkt erreicht hatte, folgte sehr schnell der Zusammenbruch.
Wie viele Statuen bereits umgestürzt waren, als die ersten Europäer zu Besuch kamen, wissen wir nicht genau; Roggeveen landete 1722 nur kurz an einer einzigen Stelle, und von Gonzalez’ spanischer Expedition im Jahr 1770 gibt es über die Insel mit Ausnahme des Schiffslogbuches keine schriftlichen Aufzeichnungen. Die erste einigermaßen ausführliche Beschreibung eines Europäers stammt von Captain Cook: Er blieb 1774 vier Tage auf der Insel, schickte ein Kommando zur Aufklärung ins Landesinnere und hatte außerdem den Vorteil, dass er von einem Tahitianer begleitet wurde, der eine ganz ähnliche polynesische Sprache sprach wie die Bewohner der Osterinsel. Cook berichtete, er habe umgeworfene Statuen gesehen, andere hätten aber noch aufrecht gestanden. Zum letzten Mal erwähnte ein Europäer 1838 eine stehende Statue; 1868 stand einem weiteren Bericht zufolge keine mehr. Glaubt man der Überlieferung, wurde als letzte Statue um 1840 Paro umgeworfen, den eine Frau angeblich zu Ehren ihres Ehemannes errichtet hatte; Feinde ihrer Familie stürzten das Bildwerk um, sodass es in der Mitte zerbrach.
Die ahu wurden entweiht: Man brach einen Teil der sorgfältig gehauenen Steinplatten heraus und verwendete sie in der Nachbarschaft zum Bau von Gartenmauern (manavai): andere dienten zur Konstruktion von Grabkammern, in denen Leichen untergebracht wurden. Heute sehen deshalb jene ahu , die nicht wieder aufgebaut wurden (und das sind die meisten), auf den ersten Blick wie Steinhaufen aus. Als ich mit Jo Anne Van Tilburg, Claudio Cristino, Sonia Haoa und Barry Rolett über die Osterinsel fuhr, sahen wir einen solchen ahu nach dem anderen: Geröllhaufen mit zerbrochenen Statuen. Ich musste darüber nachdenken, welch gewaltige Anstrengungen man jahrhundertelang in den Bau der ahu sowie in die Gestaltung, den Transport und den Aufbau der moai gesteckt hatte und dass die Inselbewohner dann selbst die Werke ihrer Vorfahren zerstört hatten. Uns alle beschlich das Gefühl, dass sich hier eine überwältigende Tragödie abgespielt hatte.
Die Zerstörung der moai erinnert mich an die Russen und Rumänen, die nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen in ihren Ländern die Statuen von Stalin und Ceau^escu stürzten. Offensichtlich hatte sich bei den Menschen auf der Insel schon seit langer Zeit eine große Wut über ihre Führer angestaut, wie es bekanntermaßen auch in Russland und Rumänien der Fall war. Ebenso fällt mir dabei eine andere kulturelle Tragödie ein, von der ich 1965 in Bornai hörte, einem Dorf im Hochland Neuguineas: Dort erzählte der christliche Missionar des Ortes mir voller Stolz, wie er von seinen frisch bekehrten Schützlingen verlangte, dass sie ihre »heidnischen Machwerke« (das heißt ihr kulturelles und künstlerisches Erbe) an der Landepiste sammelten und verbrannten - und wie sie seiner Aufforderung nachkamen. Vielleicht gaben die matatoa auf der Osterinsel eine ähnliche Anweisung an ihre Gefolgsleute aus.
Ich möchte von der gesellschaftlichen Entwicklung auf
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