Kolonien der Liebe
überhaupt nicht angerührt hatte.
Es ist dunkler geworden, und Frau Rechtsanwalt Wrobel zerrt Elsie hinter sich her in Richtung Tennisplatz. Kowalski schultert sein leichtes Rad und trägt es in den dritten Stock hoch, und währenddessen hält unten vor seinem Haus ein kleines weißes Auto. Heraus steigt in einem leuchtendblauen Kleid, das korngelbe Haar lang und offen, Erdmute. Sie ist Querflötistin im Kurorchester und hat ein Verhältnis mit dem Dirigenten, hätte aber lieber eins mit Kowalski, jetzt, wo er frei von Martha ist.
Erdmute und Martha sind zusammen zur Schule gegangen und haben sich immer gehaßt, zwei böse Sägeblätter, zwischen denen Kowalski seit Jahren zerrieben wird. Er öffnet nicht auf Erdmutes Klingeln, macht auch kein Licht. Sie versucht es noch einmal, fährt dann ab, hupt wütend. Als das Auto weg ist, öffnet Kowalski oben weit die Fenster. Jetzt wird er den Fuchs malen, den er überfahren auf der Hochstraße gesehen hat. Die vergilbte Katze schlüpft durch einen Spalt des Küchenfensters ins Altersheim, und der Kinderverderber stellt die Marschmusik ab und geht zu Bett.
Werner sitzt in Marthas Küche, sie flüstern, um den ehemaligen Boxer nicht aufzuwecken, dem der Kopf schwer auf den Tisch gesunken ist. Anita, Marthas und Kowalskis häßliche Tochter, die im Garten Marihuana züchtet und selbstgedrehte Zigaretten auf dem Schulhof verkauft, spießt lebende Schmetterlinge auf. Das Dööfchen schlurft mit drei vollen Tüten gähnend nach Hause. Uns wird kühl auf dem Balkon, wir räumen die Stühle nach innen, schließen die Tür, waschen uns flüchtig und legen uns schlafen.
Am nächsten Morgen gehen wir auf den Markt und sehen Martha mit ihrer Freundin Irene in der Fußgängerzone vor
«Claire's Bistro» sitzen und Chardonnay trinken. Mit zusammengekniffenen Augen sehen beide hinter Irenes ehemaligem Mann Wilhelm her, der grußlos vorbeigeht. Es ist halb zwölf, da macht er Mittagspause und ißt beim Chinesen süßsaure Suppe und Hühnerfleisch mit Bambus, wie immer.
Wilhelm führt eine Musikalienhandlung, und Irene hatte ihn kennengelernt, als sie vor Jahren für ihre kleine Nichte ein Akkordeon bei ihm kaufte. Viel zu schnell hatten sie geheiratet, die Ehe hielt nur anderthalb Jahre, und die kleine Nichte ist inzwischen am Gehirntumor gestorben - das Akkordeon steht ungenutzt herum. Als die kleine Nichte damals schon im Sterben lag, hatte man noch Wilhelms Mutter hinzugezogen, eine alte Frau mit schrill blondiertem Haar und Kenntnis der homöopathischen Medizin, aber es war schon zu spät gewesen. Die Ärzte, schimpfte sie, allesamt Scharlatane, hätten bereits alles gründlich verdorben, vor allem der Doktor Jungblut, man wisse ja, was von dem zu halten sei. Doktor Jungblut genießt in der Stadt eine gewisse Berühmtheit als brillanter Tänzer. Unsere drei Homosexuellen schwören auf ihn, weil er noch immer Aids für Schnickschnack und eine Erfindung der katholischen Kirche hält. Er erzählt gern kleine obszöne Witze und gibt nichts auf das Arztgeheimnis. Laut teilt er in Gesellschaft mit, wer eine Schrumpfleber, wer Colitis ulcerosa, wer Toxoplasmose hat. «Na, Frau Wrobel», ruft er auf dem Sommerfest des Tennisclubs, «was machen denn die Hämorrhoiden?» Er wird auf alle Feste eingeladen, denn Krankheiten sind immer ein wichtiges und beliebtes Thema. Auch Marthas Mutter ist bei ihm in Behandlung, weil sie nur dort ab und zu etwas über ihre Tochter erfährt, die seit Jahren nicht mehr mit ihr spricht. Das Dööfchen ist seit seiner Geburt Doktor Jungbluts Patientin. Mit starken Medikamenten hat er es während der Pubertät ruhig gehalten, nur das heisere Bellen konnte er leider nicht eindämmen. Und auch bei der kleinen Nichte hat er damals nichts mehr machen können, aber den Redakteur des Tageblatts hat er von seinem unerträglichen Mundgeruch befreit, indem er faulige Restmandeln entfernte.
Der ehemalige Boxer schläft seinen Rausch aus, während Irene und Martha die zweite Flasche Chardonnay trinken. Werner ist dazugekommen und erzählt, daß er Wilhelm, Irenes Ehemaligen, mit Sicherheit mal in Düsseldorf in der Fußgängerzone gesehen habe, wo er auf einer Gitarre Tango spielte. Wilhelm hatte als junger Mann sein Musikstudium abgebrochen, um den väterlichen Musikalienhandel zu leiten, aber anscheinend steckte ihm die Liebe zur Musik doch noch in den Knochen. Irene kann sich nicht einmal mehr daran erinnern, ob Wilhelm zum Frühstück Tee oder Kaffee trank, so
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