Kolonien der Liebe
Beide denken an diesem leichtsinnig-warmen Tag an Kowalski. Kowalski aber liegt genau zu dieser Stunde mit der Aushilfspostbotin im Bett. Sie hatte ihm schon lange gefallen, und morgen sind die drei Wochen um, in denen sie unsern alten dämlichen Briefträger vertreten hat, der immer Heinrich, Henrici und Heiders verwechselt und Nr. 14 nicht von Nr. 24 unterscheiden kann. Heute morgen, als die junge Aushilfspostbotin die drei Treppen zu Kowalski hochstieg, um Nachgebühr zu kassieren, hat er ihr auf dem Treppenabsatz ein Gedicht von Ferlinghetti aufgesagt, das mit den Worten begann:
«An der Küste von Chile
wo Neruda lebte
ist es wohlbekannt daß
Seevögel oftmals
aus Briefkästen Briefe stehlen
die sie aus verschiedenen Gründen
gerne lesen würden.»
Dieses Gedicht hat die Aushilfspostbotin überzeugt, und so schläft sie nun gern mit Kowalski und trägt den Rest der Post erst anderthalb Stunden später aus. Martha liegt jetzt überwach in einem verdunkelten Zimmer und wird von Bildern gepeinigt, die mit ihrer Mutter zu tun haben. Anita hat im Garten einen kleinen Vogel gefangen, ihn in ein Marmeladenglas gesperrt, und nun sieht sie zu, wie er erstickt.
An diesem Abend warten wir vergebens auf das Dööfchen. Es kommt nicht die Straße herunter, und die alte Wrobel lauert ratlos mit der Kaminzange hinter der Wohnzimmergardine. Das Dööfchen kommt auch in den nächsten Tagen nicht, und wir fangen an, uns Sorgen zu machen. Die Nachricht, daß Doktor Jungblut sich bei Wilhelm abermals geirrt hat - es ist Krebs der Bauchspeicheldrüse und wird nun sehr schnell gehen -, läßt uns kalt. Wo ist das Dööfchen? Ob man einfach einmal klingelt und die Mutter fragt, entschuldigen Sie bitte, aber Ihre Tochter...? Judith will sich für Wilhelm aufopfern und ihn pflegen bis zum Schluß.
Martha hat den Boxer nun doch aus dem Haus geworfen, und Kowalski überlegt, ob er wieder zu ihr und den Kindern zurückziehen soll. Werner wird nach Wien fahren und es noch einmal mit Elsbeth versuchen, und Rechtsanwalt Wrobel ist zum erstenmal ein ganzes Wochenende in Bielefeld geblieben. Jetzt erwägt seine Frau ernsthaft, mit dem Tennislehrer noch einmal ganz von vorn anzufangen. Sie weiß nicht, daß Erdmute Kowalski endgültig aufgegeben hat und nun private Trainerstunden nimmt.
Die Brühwürfelerbin räumt auf dem Heimweg vom Schwimmbad mit ihrem Stock die vergilbte Katze beiseite, die überfahren vor dem Altersheim liegt. Da wird sie der alte Mann in dem rosa Hemd mit den kurzen Ärmeln am Abend finden, wird sie weinend in den Arm nehmen und endlich lange streicheln.
In der Zeitung lesen wir, daß Alexis von Bredow den Tod ihrer Mutter betrauert. Die Adresse ist die des Dööfchens, von dem wir nun wissen, daß es Alexis heißt. Wenige Tage später sehen wir seinen dicken runden Kopf an einem der Fenster des Altersheims.
Es schaut dem Kinderverderber nach, der vom Rad steigt und sich mißmutig umsieht, weil nichts los ist.
Ganymed und der schöne Bertram gehen die Straße hinauf zur Grünanlage. Ganymed legt vorsichtig seinen Arm um den Freund.
Weiter passiert heute nichts. Aber wir sind gewohnt zu warten.
Alles ereignet sich, irgendwann.
Kleine Reise
Ich hasse Berlin, habe es immer gehaßt. Ich mag den Dialekt nicht, den sie dort sprechen, ich mag die grauen Häuser nicht, den Geruch aus der U-Bahn, das ganze hysterische Deutsche-Reich-Getue. Ich mag ihr Bier nicht und muß kotzen, wenn ich ihre Buletten nur sehe, und überall alte Leute und Hundescheiße. Und inzwischen haben wir auch noch die ganze Stadt, als wäre die Hälfte nicht mehr als genug gewesen. Am meisten hasse ich Berlins Taxifahrer. Wir leben in lausigen Zeiten, und Taxifahrer wird man nicht aus Spaß, sondern weil man keinen besseren Job kriegt, bei der Polizei rausgeflogen ist oder was weiß ich.
Jedenfalls sind die Berliner Taxifahrer wie geladene Gewehre, sie fahren aggressiv, fluchen, haben Stiernacken und quatschen dich voll mit ihren rassistischen Parolen. Da ist sie, die Stimme des Volkes, und zu mir hat sie schon oft genug gesagt: «Weismann?
Ochn jüdischer Name, wa? Wohl vajessen zu vajasen, hahaha.»
Ich steige immer nur hinten ein. Wenn einer das Reden anfängt und die Klappe auch dann noch nicht hält, wenn ich hartnäckig auf taubstumm mache, lasse ich ihn rechts ranfahren, geh ihm sein Geld und steig aus. Lieber steh ich in der Kälte und warte auf den nächsten und hab Glück, daß der schon jenseits von allem ist und kein
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