Kolonien der Liebe
unwichtig ist er ihr gewesen oder geworden.
Auf dem Schulhof läßt Anita Sechsjährige an ihren Marihuana-Zigaretten ziehen und freut sich, wenn sie das Schulklo vollkotzen.
Niemand prüft, was in diesen Zigaretten drin ist, und bei Vorwürfen dreht Anita die blassen Augen gen Himmel und sagt: «Kann ich dafür, wenn sie so früh schon rauchen wollen?» Wenn Anita aus der Schule kommt, ist ihre Mutter schon so betrunken, daß sie sich auf dem Heimweg bei der Tochter einhaken muß. Mutter und Tochter verabscheuen sich, wie sich Martha und ihre Mutter verabscheuen. Sie zischen sich Gemeinheiten zu, und Anita geht in festem Schritt, mit zusammengepreßten schmalen Lippen und zieht die Mutter rücksichtslos hinter sich her. Sie ist ein häßliches und böses Kind, groß und hager wie die Mutter - kein Hund, der nicht im Vorübergehen von ihr getreten würde, kein Kind, dem sie nicht rasch und fest auf den Kopf schlüge, wenn die Eltern gerade wegschauen. Anita liebt nur einen einzigen Menschen, das ist Kowalski, ihr Vater, aber diese Liebe wird nicht erwidert. Irene bleibt allein vor «Ciaire's Bistro» bei ihrem Wein sitzen, bis auch Ganymed aus der Schule kommt, zusammen mit dem schönen Bertram. Der schöne Bertram ist sechzehn, hat langes blondes Haar, zum Zopf gebunden, und immer eine Zigarette im Mund. Er schaut den Frauen auf die Brüste, die Beine und den Hintern, und man sagt, daß der ehemalige Boxer ihn schon als Zuhälter anlernt.
Ganymed ist hoffnungslos verliebt in den schönen Bertram, der jetzt aus Irenes Glas einen Schluck trinkt und ihr so in den Nacken faßt, daß sie eine Gänsehaut bekommt. «Na», sagt er, und sonst nichts. Im Schaufenster der Buchhandlung Löwinger studieren er und Ganymed Reiseprospekte, dann verabreden sie sich zum Pferderennen am Nachmittag und trennen sich. Der schöne Bertram holt jetzt seine Mutter ab, die beim Bridgespielen verloren hat, und manchmal zieht er einen Hunderter aus der Tasche und zahlt ihre Schulden. Buchhändler Löwinger schließt über Mittag sein Geschäft und geht mit seinen beiden dicken Töchtern nach Hause zum Essen. Sandra, die Jüngere, hat neuerdings einen Freund, und zwar Patrick, den Sohn des Leiters dieses großen Einkaufszentrums draußen am Bahnhof. Vor Jahren hatte Patrick einen Autounfall, da dachten wir alle: das wird nichts mehr. Aber nun geht er mit Sandra, die aussieht wie eine Lehmgrube nach einem schweren Gewitter, und er ist doch eigentlich ganz hübsch, wenn auch so unauffällig, daß man sein Gesicht sofort vergißt. Er muß das wissen, denn im Sommer fährt er mehrmals täglich in einem offenen Auto an «Claire's Bistro» vorbei, damit wir uns an ihn erinnern. Wenn Sandra den kriegt, sagen wir, hat sie ausgesorgt, und dann kann ihre kloßförmige Schwester Judith den Buchladen erben.
Judith hätte gern damals Wilhelm geheiratet, aber da war ihr Irene dazwischengekommen. Seither grüßt sie Irene nicht mehr, und wann immer Irene ein Buch kaufen möchte, sagt Judith: «Das muß ich erst bestellen», und das läßt sie dann tagelang dauern.
Wilhelm sitzt beim Chinesen und trinkt Rotwein zum Essen. Doktor Jungblut hat vor Jahren Darmkrebs bei ihm festgestellt, und dann war herausgekommen: er hatte sich geirrt, nur ein Magen-geschwür! Ab sofort kein Rotwein mehr! Nun trinkt Wilhelm den Beaujolais schon mittags.
Am Nebentisch schlürft die Brühwürfelerbin ihre Wan-Tan-Suppe. Sie ist fast neunzig Jahre alt und steinreich und wird alles der katholischen Kirche vermachen, denn sie haßt ihre Familie.
Täglich geht sie schwimmen im städtischen Bad und schlägt am Beckenrand mit dem Stock nach Kindern, die spritzen oder herumtoben. Nie weicht sie einem Schwimmer aus, der ihre Bahn kreuzt. Stur schwimmt sie mit energischen Zügen geradeaus, und einmal ist ihretwegen fast ein Kind ertrunken, sie ist einfach drüberweg geschwommen.
Sie nickt Wilhelm zu, der zweimal im Jahr - vor und nach der Heizperiode - ihren Flügel stimmen kommt, auf dem sie nie spielt.
Heute wird sie nach dem Essen auf den Friedhof gehen, wo ihr letzter Freund beerdigt wird, ein alter Französischlehrer, mit dem sie manchmal Patiencen gelegt hat. Statt Blumen wird sie ihm die Patiencekarten ins Grab werfen. Sie überlegt, mit wem sie nun in Zukunft ab und zu ein Schwätzchen halten könnte, aber es fällt ihr niemand ein. Frau Rechtsanwalt Wrobel kommt mit schnellem Schritt vom Einkaufen, sie wird von Erdmute gegrüßt, die soeben eine Kurorchesterprobe hatte.
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